640 Seiten Brandenburg?

am 21.02.2017

„Unterleuten“ - ein „große[r] Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit […], der sich hochspannend wie ein Thriller liest.“

Wenn man eine solche Bewertung auf dem Bucheinschlag eines Romans liest, hat man doch gleich etwas weniger Angst vor einem über 600-seitigen Roman aus dem Jahre 2016, den man unter Zeitdruck verschlingen muss. Der Titel „Unterleuten" allein verrät nun zunächst aber gar nichts über Inhalt oder Art des Romans von Juli Zeh, deren Name mir zuvor ebenfalls noch nie begegnet war. Erst im Nachhinein erkennt man das kluge Wortspiel und ist froh, nicht unter diesen Leuten zu sein.

Ohne eine leiseste Ahnung davon, was mich erwarten könnte, begann ich also zu lesen - ich als Person, die eher Sachbücher und dokumentarische Werke präferiert, bei denen es nicht auf kontinuierliches Lesen ankommt. Zunächst bedarf es zugegebenermaßen einiges an Disziplin, sich in „Unterleuten" zurechtzufinden. Ist man jedoch erst einmal in dem brandenburgischen Dorf angekommen, will man dann doch wissen, wie sich die Dinge entwickeln.

Rapsfeld mit Windrädern

Unterleuten - wenn das Landleben ungemütlich wird

Kapitel für Kapitel wird der Leser aus wechselnden Perspektiven in Figuren und Strukturen dieser fiktiven Dorfgemeinschaft eingeführt, die aus alteingesessenen Familien und zugezogenen Städtern besteht. Vogelschützer, befremdliche Pferdefanatiker, Indianer, skrupellose Betrüger, Systemkritiker, leidenschaftliche Rasenmäher, arbeitslose Schriftsteller, Umweltaktivisten und einsame Katzenfrauen - um nur einige Charaktere aufzuzählen - leben hier Seite an Seite auf dem Land, wollen frei und unabhängig sein. Mit einer idyllisch-hilfsbereiten Nachbarschaft à la „Landlust" (marktführende Lebensstil-Publikumszeitschrift) hat das allerdings überhaupt nichts zu tun: In Unterleuten ist sich jeder selbst der Nächste.

Dies wird schnell klar, als die Dorfbewohner mit Plänen für einen Windpark in unmittelbarer Nähe konfrontiert werden und sich das Dorf spaltet. Befürworter und Gegner, wobei jeder auf seinen individuellen Vorteil bedacht ist, liefern sich Schlachten, die Einblicke in vergangene Konflikte und aktuelle Differenzen zwischen den Unterleutenern geben. Tatsächlich stellt dieses Landleben eine Art Thriller dar, den man aus sicherer Distanz aber mit Freude gebannt verfolgt.

Ein Dorf, das sich selbst isoliert

„Unterleuten" ist allerdings nicht nur ein angespanntes Knäuel aus verwirrenden Beziehungen zwischen merkwürdigen Figuren. Ebenso ist es einem chronischem Mangel an moderner Technik, etwa Internet, oder aktiver Ignoranz ausgesetzt. Es wird nicht ferngesehen, aktuelle Ereignisse außerhalb des Ortes spielen absolut keine Rolle – folglich mangelt es an Informationen über das aktuelle Zeitgeschehen. Eben durch diese Abgeschiedenheit konzentriert sich das Geschehen jedoch gut auf einen begrenzten Raum, in dem alles mit allem zusammenhängt, miteinander und gegeneinander arbeiten kann.

Juli Zeh erzählt komplex

Anfangs braucht es sicher einige Kapitel bis man versteht, dass der ständige Perspektivwechsel dazu dient, Vergangenheit und Gegenwart aus individuellen Positionen zu beleuchten. Es existiert eben keine klassische Erzählinstanz, die einen durch die Handlung führt. Zehs komplexes System aus Beziehungen und Zusammenhängen muss der Leser sich selbst nach und nach erschließen. Dies ist unbestritten anstrengend, doch zahlt sich das Durchhalten aus: Interesse und (An)Spannung steigen von Kapitel zu Kapitel.

Ein Herz für das Unterleutner Knäuel

Auch wenn ich zunächst eine gewisse Antipathie den Dorfbewohnern gegenüber verspürte, möchte ich doch klar dazu aufrufen, niemanden pauschal zu verurteilen. Natürlich hat man es in "Unterleuten" mit einigen menschlichen Abgründen zu tun, die jedoch oftmals Produkte von schweren Schicksalsschlägen oder verzweifelter Sinnsuche sind. Auch wenn man es sich nicht unbedingt eingestehen will, so kann sich sicherlich jeder Leser irgendwann selbst wiederfinden. Ich persönlich war teilweise froh, dass meine Gedanken einmal ausgesprochen bzw. ausgeschrieben wurden, dass Juli Zeh ihren Figuren eben kein Blatt mehr vor den Mund gehalten hat. Derartig skrupellose Offenheit schätze ich unheimlich.

Ein Dorf in der Provinz - was hat das denn mit uns zu tun?

Nicht grundlos wird „Unterleuten" auch als Mikrokosmos unserer Gesellschaft bezeichnet. Die Liebe zu Besitz(erweiterung), das Verlangen nach Unabhängigkeit, Erfolg und Anerkennung sowie das Bedürfnis nach Sicherheit sind ganz natürliche Aspekte unserer modernen Welt – ganz egal ob auf dem Land oder in der Stadt.

Juli Zeh gelingt es ausgezeichnet, ein treffendes Bild unserer Zeit zu erzeugen, verschiedenste Strömungen festzuhalten. Ihr Gesellschaftsroman fesselt, unterhält, spielt mit Witz und weisen Worten, die sich im Kopf festsetzen und zum Weiterdenken und hitzigem Diskutieren animieren.

5 von 5 Punkten plus einen Kampfläufer für Juli Zeh

Mir bleibt nichts anderes übrig, als „Unterleuten" und seiner großartigen Schöpferin Juli Zeh fünf Punkte und, anstelle eines Bienchens, einen Kampfläufer, dem tiergewordenen Symbol des Dorfes, zu verleihen. Mit Sicherheit wird dies nicht das letzte Werk Zehs gewesen sein, das Einzug in meine persönliche Bibliothek gehalten hat. In einem Interview verriet sie beispielsweise, dass Lucy Finkbeiner als Schlüssel zu einem städtischen Äquivalent zu „Unterleuten" fungieren könnte. Gleichermaßen würde ich mich, ebenso wie Juli Zeh auch, über eine serielle Verfilmung von „Unterleuten" freuen, um noch einmal in die Welt der Unterleutner eintauchen zu können.

Voller Neugier erwarte ich nun also, was diese Autorin als Nächstes kreieren wird.