Die letzten Männer von Aleppo | خر الرجال في حلب

Jessica von der Schülerzeitung MORON rezensiert den erschütternden Dokumentarfilm aus Syrien.

Ich stehe vor dem Spiegel auf der Toilette des Kinos in den Hackeschen Höfen und wische mir die Tränen aus den Augen. Schockiert und völlig fassungslos starre ich in mein bleiches Gesicht und versuche ruhig zu atmen. Die Bilder, die ich in den letzten anderthalb Stunden gesehen habe, werden mich wahrscheinlich noch ewig verfolgen. Leid und Elend, von dem wir alle denken, dass wir es kennen. Allerdings ist es ganz anders. Wir verschließen die Augen... aus Selbstschutz? Aus Angst? Viel zu häufig denken wir, dass wir Bescheid wissen; dass wir gut informiert sind und dass wir den Überblick haben. Ich betrachte mein Spiegelbild. „Was hast du denn erwartet“, frage ich mich. Ich weiß es nicht...

Der Film, um den es geht, ist ein dänisch/syrischer Dokumentarfilm mit dem Namen „Die letzten Männer von Aleppo“ (Original: „The last men in Aleppo“). Er handelt von einer Gruppe Männern,die sich die يروسلا يندملا عافدلا (dt.:die Weißhelme) nennen. Sie sind der syrische Zivilschutz, der sich gebildet hat, um in den Trümmern Syriens nach Menschen zu suchen. Nachdem Bomben explodiert sind, oder Schüsse gefallen sind, fahren sie zu den Unfallorten und versuchen Leben zu retten. Zwei von ihnen sind Khaled und Mahmoud.

Ein Kamerateam begleitet die zwei für knapp zwei Jahre durch die zerfallene Stadt Aleppo. Neben seiner freiwilligen Arbeit bei den Weißhelmen ist Khaled Familienvater. Das Lachen seiner Kinder erhellt den Film. Es ist das Einzige, was den Film zu etwas Schönem macht. Obwohl sie Kinder sind, wissen sie mehr über den Krieg, als sie sollten. Sie hören tagtäglich Bomben fallen. Sie dürfen nicht draußen spielen und sind krank, weil sie kaum etwas zu essen haben. Und trotzdem ist es für sie das Größte, als sie während einer Waffenruhe mit ihrem Vater auf einen Spielplatz gehen können. Die Freude ist nur von kurzer Dauer, denn sie müssen den Spielplatz schnell räumen, als ein Jet über der Stadt seine Kreise zieht. Diese Abfolge der Ereignisse zieht sich durch den gesamten Film. Nette Gespräche, Gesänge und Lachen; das Leben in Syrien zeigt sich von seiner schönen und menschlichen Seite. Dann fallen Schüsse. Die Sequenzen, in denen es Bomben regnet, sind mit dramatischer Musik untermalt, während der Rest des Films nur die Geräusche der Stadt zeigt. Es ist beeindruckend und lässt einen selbst Teil der Katastrophe werden. Sirenen ertönen und Menschen schreien. „Sechs Personen sind hier irgendwo begraben, drei Kinder, zwei Männer und eine Frau.“ Ein Baby wird vorsichtig unter einem Stein hervorgezogen. Es ist tot. Ein weiterer Arm ist zu sehen. Ein Junge, der noch zu leben scheint, doch dessen Kopf mit Blut überströmt ist. Er wird zu einem Rettungswagen getragen. Wieder ein totes Baby. Ein Mann fängt an zu schreien. Ein ohrenbetäubendes Weinen. Mahmoud und weitere Helfer graben und graben, bis sie die gesuchte Frau finden. Sie ist zum Glück wohlauf. Ein Fuß wird gefunden. Wem könnte er gehören? Der Film zeigt eine ungeschnittene Wahrheit der Ereignisse. Eine Mischung aus temporärer Freude und doch unmenschlicher Hoffnungslosigkeit. Khaled wird gefragt, ob er Aleppo verlassen möchte, oder ob er wenigstens seine Familie in Sicherheit bringen will.„Ich bin in Aleppo groß geworden. Ich werde meine Stadt nicht einfach kampflos zurücklassen. Wenn meine Kinder sterben, dann soll es vor meinen Augen geschehen und nicht irgendwo anders. Ich werde Aleppo nicht verlassen.“ Diese Meinung haben viele. Immer wieder betonen sie, dass sie gemeinsam sterben wollen. Der Film ist meiner Meinung nach zu hundert Prozent sehenswert. Er spielt nichts vor. Er betrügt nicht und gibt keine falschen Hoffnungen, aber vor allem zeigt er, dass jeder Tote nur einer von vielen ist. Es ist für Außenstehende gar nicht möglich, um jeden einzelnen zu trauern. Nicht einmal um „vertraute Gesichter“, denn auch Khaled stirbt noch während den Dreharbeiten. Der Film heuchelt jedoch keine falsche Fassungslosigkeit, denn man empfindet den Tod von Khaled nicht als schrecklichen Höhepunkt. Wie jeder andere zuvor gezeigte Tote wird er von einer großen Gruppe Menschen zu einer Art Friedhof gebracht und vergraben. Der Film wird im Originalton, also auf Arabisch mit deutschem, je nach Kino auch mit englischem Untertitel gezeigt. Somit ist es noch einfach, sich in den Film hineinzudenken. Man hört die grauenhafte und ehrliche Wahrheit in den Stimmen der Menschen.

Hier könnt ihr euch den Trailer anschauen:

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Zur Autorin: Jessica besucht das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Berlin-Pankow und ist Redakteurin der preisgekrönten Schülerzeitung MORON. jup! Berlin bedankt sich für die Möglichkeit, den Artikel zweitzuveröffentlichen.