Das Southside – Vom körperlichen Verfall

VON HANNAH

Tag 1 – Die Anreise

Der Wecker klingelt. Das Licht fällt durch die Jalousien schräg in das Zimmer. Die Luftmatratze quietscht als ich mich nochmal umdrehen will. L. und ich stehen auf. Ich gehe ins Bad und eine stille Träne fließt meine Wange hinunter – ich weiß, was mich erwarten wird in den kommenden vier Tagen. Dies wird das letzte Mal sein, dass ich eine richtige Toilette benutzen kann.

Wir sitzen im Auto. Klimaanlage funktioniert. Gott sei es gedankt. Ortsausgangsschild Pforzheim. Hier hat L. eine Wohnung, zu der wir am Abend vorher stundenlang mit der Bahn angereist sind. Jetzt ist es nicht mehr weit. Nicht mehr weit zum Southside. Ich muss schlucken, als wir am Kaufland parken. Die nächste Stunde wird über unser Schicksal entscheiden – Ravioli oder Vollkornbrot? Wie kann man solche Entscheidungen treffen? Zum Glück muss ich das nicht alleine durchstehen.

Das Auto ist vollgepackt. Gelbes Auto. Ich muss beinahe lachen. Als Kind wollte ich immer ein gelbes Auto fahren, damit andere Kinder sich deswegen schlagen. Jetzt bin ich erwachsen geworden. Die Zeiten ändern sich. Zeiten ändern dich. Das erkannte auch schon ein weiser Poet namens Bushido.

Wir hören keine Musik, die Anspannung steigt. Es ist heiß draußen. Dann kommen wir endlich an. Lotsen lotsen uns auf einen Parkplatz übers Feld. Besoffene fallen aus dem Auto vor uns. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Es ist wieder so weit.

Wir tragen, was wir tragen können. Wir sind nur zu zweit. Die anderen kommen später und wir haben den ganzen Scheiß im Kofferraum. Wir tragen, was wir tragen können. Tauchen unter in der anonymen Menschenmasse. Eine Pilgerschaft auf dem Weg zur Bändchen-Vergabe. Gott behüte.

Ich habe Glück. Das Privileg der Presse. Ich gehe zum Gästeeingang und kriege mein Bändchen sofort. Bringt mir aber doch nichts, da ich auf L. warten muss, die sich in der riesigen Schlange der anderen Festival-Gänger anstellt. Gefühlte Stunden vergehen, in denen ich mein Elend kaum aushalte. Dann steht sie vor mir. Sie erscheint mir wie eine Heilige.

Jetzt geht es aufs Gelände. Die Sache wird ernst. Auch hier müssen wir warten. Das Gepäck wird beim Einlass streng kontrolliert. Dann sind wir drin. Das Internet versagt und wir haben keine Ahnung wo genau die Freunde von R. sein sollen, die für uns einen Platz reserviert haben. Wir wissen nicht mal, wie sie aussehen. Bepackt wie das Volk Moses irren wir über den Campingplatz 8 und fragen alle möglichen Fremden, ob sie einen gewissen R. kennen. Kurz bevor wir aufgeben wollen, erscheint ein Licht am Ende des Tunnels. Wir haben sie gefunden. Wir hatten einen Schutzengel.

Man begrüßt uns nicht wie zwei vom Krieg zurückgekehrte Soldaten. Ich finde das schade. Kurz ausruhen, dann Zelte aufbauen. Selbst ist die Frau. Wieder Pause, Kräfte sammeln, vorbereiten für den nächsten Schlachtzug. Wir raffen uns auf und gehen zurück zum Auto. Gelbes Auto. Haha. Packen uns wieder voll. Habe jetzt schon keinen Bock mehr. An der Schwelle zum Gelände wieder das gleiche Prozedere. Es dauert eine Stunde, bis wir drin sind. Mittlerweile sind unsere Mitkämpfer angekommen. Jetzt sind wir vollzählig. Wir begrüßen uns wie alte Freunde. Vielleicht, weil wir alte Freunde sind.

Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wir haben jetzt zwar alle Zelte, die Taschen und den Pavillon da, aber das Essen fehlt. Wir gehen gemeinsam ein letztes Mal mit ausgeliehenem Bollerwagen los. Es wird ein Trauermarsch.

Das geplante Grillen wird vertagt. Unsere neuen Zeltnachbarn wollen mit einem Trinkspiel das Eis brechen. Das Vorhaben gelingt. Jetzt sind wir per Du. Ihr könnt mich auch H. nennen.

Ich krieche in mein Zelt. Es geht mir gut. Ich habe Ohrstöpsel dabei. Bis spät in die Nacht hört man aus allen Richtungen Ballermann-Hits. Wehmütig schlafe ich ein.

Tag 2 – Der Spaß beginnt

Ich wache schweißgebadet auf. Ich hatte einen Alptraum – oder war es doch Realität? Der Anton aus Tirol verfolgte mich nicht nur scheinbar, sondern lief auch in Dauerschleife im Zelt hinter uns. Schweißgebadet vielleicht auch wegen der steigenden Temperatur im Zelt. Ich krieche wie ein Wurm aus einem Loch. Ich muss aufs Klo. Das nächste Dixie ist nicht in direkter Reichweite. Vielleicht ist es besser so. Ich begebe mich auf Wanderschaft und gehe auch gleich noch duschen. Ich stehe eine halbe Stunde an. Das Wasser ist warm. Noch.

Wir verbringen den Tag mit primitivsten Dingen. Essen, trinken, dösen. Der Bierpongtisch unserer Nachbarn wird wieder ausgepackt. Es ist gerade mal 14:00. Durch Gruppenzwang trinke ich mit, obwohl mir nicht nach Bier ist. Nach der ersten Dose legt sich der anfängliche Widerstand. Alle Jahre wieder.

Eigentlich wollen wir zu Passenger, der schon früh am Nachmittag spielt. Der Campingplatz scheint aber gemütlicher. Schließlich müssen wir dann doch los. Nützt ja alles nichts. Wir schauen uns kurz Jennifer Rostock an, wechseln dann aber die Stage – wir wollen in den ersten Wellenbrecher bei Bilderbuch. Die Österreicher sind ganz nach meinem Geschmack. Erinnern mich an Falco. Guter Typ. „Verkühlung“ des Sängers tut der Show keinen Abbruch. Wir senden gemeinsam ein Gebet ab. Ich bin begeistert.

Bäumchen wechsle dich. Zurück zur Green Stage. Mando Diao noch kurz gesehen. Abgehakt. Die Antwoord verstört uns. Wir sind trotzdem beeindruckt. Als die anderen zu Alt-J gehen, gehe ich ins Pressezelt. Da gibt es Strom und eine halbwegs anständige Toilette. Vor allem der Strom zählt. Und die Couch. Schaue das Konzert vom Monitor. Eine Gruppe fragt mich, ob ich ein Foto von ihnen machen kann. Auch wenn es mir in diesem Moment noch nicht bewusst ist – diese Leute werde ich noch öfter treffen.

Treffpunkt Bier-Stand. Wir sind wieder vereint. Wir sind das Wolfsrudel. Wir sind vollzählig. Im weißen Zelt spielen irgendwelche DJs. Die Musik ist mir scheißegal, ich bin angetrunken genug. Tanzen macht Spaß. In dieser Nacht schlafe ich gut. Die Erschöpfung macht's.

Tag 3 – Wendeblatt

Heute sind wir ambitionierter. Obwohl das Festival langsam aber stetig an unseren Kräften zehrt. Wir machen das Beste draus. Unsere Zeltnachbarn zeigen erneut keine Gnade. Ich will ja nur dazu gehören und schlucke das Bier widerwillig hinunter. Et es wie et es (§1). Et kütt wie et kütt (§2). Un et hätt noch immer jot jejange (§3). Das kölsche Grundgesetz steht mir in jeder Lebenslage zur Seite.

Kakkmaddafakka erlösen mich für 45 Minuten von meinen körperlichen Qualen. Meine beste Freundin A. und ich tanzen uns die Seele aus dem Leib. Später noch werde ich diesen gottlosen Moment bereuen. Aber noch geht es mir gut. Es geht mir gut. Ich eile auf meine VIP Toilette gleich neben der Blue Stage und erlaube mir etwas Wasser zu lassen. Erneut treffe ich meine Bekannten vom Vortag. Die scheinen hier immer herum zu hängen. Ich eile zurück zum Rudel in den ersten Wellenbrecher. Clueso soll kommen. Und das tut er auch. Ich kriege mich nicht mehr ein. Ich kenne alle Lieder. Sende LG an Udo bei Cello. Und vieles mehr.

Erneut habe ich mich verausgabt. Wir beschließen gemeinsam zurück zum Zelt zu gehen. Kraft tanken. Und Alkohol. Später laufen wir an Milky Chance vorbei zu Green Day. Mein 15-jähriges Ich hätte sich jetzt gefreut. Nicht aber mein 21-jähriges. Ich bin einfach nur fertig und will in meinen Schlafsack kriechen. Kompletter Stromausfall an der Green Stage. Insgeheim freue ich mich. Versuche es nicht zu sehr zu zeigen. Die anderen finden es schade. Heimlich danke ich der Mutter Maria.

Eine Stunde später schiebe ich mir ein Käsebrot genussvoll in die Wangen. Jetzt geht es mir gut. Ein bisschen besser zumindest. Wir sitzen auf der Fressmeile und irgendwo wird laut Bohemian Rhapsody gespielt. Die folgenden 6 Minuten sind die meinigen. So gehen wir gemeinsam ein letztes Mal an unsere Grenzen bevor wir uns gegenseitig eingestehen, dass wir nun nur noch ins Bett wollen. Dieses Geständnis erleichtert mich. Wir sind schon aus dem Bühnengelände als Imagine Dragons anfangen zu spielen. Wir beobachten das Geschehen hinter dem Absperrzaun. R. hat sich auf eine Mülltonne gelegt. Das letzte Mal, dass ich in dieser Nacht lache...

Tag 4 – Und täglich grüßt das Murmeltier

Wir finden uns in demselben Trott der letzten Tage gefangen. Aufstehen, Dixie, Frühstück, Bier. Ansonsten ist noch mal Duschen angesagt. Die sanitären Anlagen haben zu diesem Zeitpunkt leider total versagt. Bittere Enttäuschung zuckt durch mein Gesicht, als ich die Schlange vor den Duschen entdecke und zugleich erfahren muss, dass es kein warmes Wasser mehr gibt. Viele Frauen fliehen in die Männerdusche. Ich will das nicht. Nach ewigem Anstehen erwartet mich das kalte Wasser. Eine Ohnmacht der Hilflosigkeit übermannt mich. Ich tue, was getan werden muss. Haare, Körper, Rasur. Meine Beine bluten. Meine Kopfhaut brennt vom eiskalten Wasser.

Zurück im Camp herrscht eine apokalyptische aber heitere Stimmung. Endspurt ist angesagt. Die Männer packen ein letztes Mal den Trichter aus. A. und ich kennen ein besseres Trinkspiel: Eine Playlist mit bekannten Liedern wird angemacht. Entweder muss man den Text bis zum Refrain mitsingen oder, wenn man das Lied nicht kennt, mit einer Choreographie überzeugen. Ein letztes Mal zeige ich mich von meiner glänzenden Seite. Ausdruckstanz und Luftgitarre sind mein Spezialgebiet. Tosender Applaus. Plié. Gern geschehen. Eine Kombination aus Bier, Ruhm und Hitze steigen mir zu Kopf.

Der letzte Tag, der Sonntag, hat keine besonderen Lieblingsbands mehr für uns bereit. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche. Dies wird der letzte Streich. So Gott will. Linkin Park beginnt um 23:00. Wir sind gut vorbereitet und haben uns Mut angetrunken. Ich habe zu viel getrunken, denn ich muss pinkeln. Das bemerke ich erst, als Linkin Park bereits ca. 20 Minuten spielt und ich mich inmitten einer enormen Menschenmenge wiederfinde. Ich verfluche meine schwache Blase.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Einfach hinhocken ist keine Option. Ich muss gehen. Wir müssen uns trennen. Ich weiß nicht, wie wir uns jemals wieder finden sollen. Worte des Abschieds. Tränen. Verzweiflung. In meiner Einsamkeit renne ich zu dem einzigen Ort, an dem ich mich wirklich sicher und geborgen fühle. Die Toilette im Pressebereich. Dort sorge ich für Erleichterung und treffe auf altbekannte Gesichter.

Die Leute arbeiten für einen Spirituosenherstellern und nehmen mich mit zum Stand. Ein riesiges Holzgestell, von dem aus wir das Konzert zu Ende gucken. Da hatte ich die Hoffnung mein Rudel wieder zu finden schon aufgegeben. Hier gibt es auch Getränke umsonst. Davon profitiere ich. Das Konzert ist gut. Die Leute sagen, sie würden nicht im Zelt, sondern in Wohnwägen schlafen. Giftiger Neid steigt in mir auf, doch das will ich mir nicht eingestehen. Diese Bourgeoisie.

Ob ich den Wohnwagen mal sehen will. Was für eine Frage. Natürlich. Sie locken mich wie mit rosa Kaninchen in den Campingwagen-Bereich. Ein billiger Trick, den ich durchschaue. Trotzdem komme ich mit. Aus eigenem Willen natürlich. Der Camper ist dekadent. Die Leute haben coole Nachbarn. Mit Dampfmaschine und Diskolichtern verbreiten sie auf offener Straße Club-Atmosphäre. Das gefällt mir gut.

Im Angesicht der Dampfmaschine verliere ich mich in der Nacht. Ich tanze mit Schatten unter den Sternen und fühle mich frei. Keine Ahnung, wie diese Leute hier heißen. Ist aber auch total egal. Wir reden nicht, wir tanzen nur. Jemand hat eine Matratze auf den Boden gelegt. Ich ruhe mich etwas aus. Schade, dass die anderen nicht dabei sind. Das hier glaubt mir kein Schwein. Dann wird es Zeit zu gehen. Ich verabschiede mich freundlich bei meinen Gastgebern, wandere beseelt zu meinem Zelt zurück und krieche ein letztes Mal in meinen Schlafsack. Es ist schon spät. Es ist geschafft. Fast.

Tag 5 – The Show must go on

Ein neuer Tag erwacht. Besonders die letzte Nacht hat ihre Spuren an mir hinterlassen. Ein flaues Gefühl macht sich in meinem Magen breit. Mir graut es schon vor dem Abbauen. Ich reiße mich zusammen. Funktioniere in diesen Momenten der Grenzerfahrung nur noch. Rucksack packen, Zelt abbauen, Tomaten essen. Die werden mir später nochmal begegnen. Nicht gerade eine gute Grundlage. Etwas anderes ist von unserem Einkauf leider nicht mehr übrig.

Jetzt stehen wir wieder hier. Bepackt bis zum geht nicht mehr. Ein Déjà-vu. Ein schlechter Witz. Die Sonne des Herrn scheint erbarmungslos auf unser mickriges Dasein nieder.

Warum tun wir uns das an? Warum versammelt sich solch eine große Menge an wohlsituierten mittelständigen europäischen jungen Erwachsenen unter solch rückständigen Umständen? Jegliche Lebensstandards hinter sich lassend? Kaltes Wasser zum Duschen, Dixie-Toiletten voll Scheiße und schlaflose Nächte auf dem Boden über sich ergehen lassend? Warum vergessen sie für vier Tage jegliches Benehmen bis hin zur menschlichen Vernunft? Wie kann es sein, dass alles, was jahrhundertelang von verschiedensten Philosophen besonders zu Zeiten der Aufklärung gepredigt wurde, so dermaßen über den Haufen geworfen wird?

Zweifel, Übelkeit und Unbehagen breiten sich in mir aus. Und nur die Frage nach dem Warum bleibt, während ich innerlich und äußerlich zerstört in Richtung Auto stapfe und mein Weltbild hinterfrage.

Das alles für die Musik? Ja.

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