Sweet Thing - Streuner & Banditen

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am 26.02.2020

“Papa, nein!” Wütend und mit Tränen in den Augen hämmert Nico gegen die verschlossene Tür. “Hör auf damit! Wenn du das machst, bringe ich dich um!” Der Lärm hallte in den Räumen wieder, während seine Schwester Billie auf der anderen Seite der Tür nicht aufhören konnte zu weinen. Mit jeder Haarsträhne, die ihr  Vater mit der Schere abschneidet, fällt auch eine Träne. Irgendwann hört sie auf zu schluchzen und richtet ihre glasigen Augen auf den Boden, wo ihre Haare leblos im Dreck liegen. Fort sind ihre geliebten Locken, fort ist das Symbol ihres Lebens.

Für Billie und Nico ist das Leben nicht wirklich ein Leichtes. Die Geschwister aus New Bedford - Massachusetts leben in recht bescheidenen Verhältnissen. Manchmal wird ihr kleines, persönliches Paradies wie aus dem Nichts auf den Kopf gestellt - wie etwa durch jene unerwarteten Ausbrüche ihres alleinerziehenden Vaters. Eine Wucht an Emotionen, denen Kinder mit ihrer ganz eigenen Vorstellung von der Realität entgegenwirken. Eine Geschichte von Widerstandsfähigkeit und den unerhörten Mut zum Leben - das alles erzählt uns der Film “Sweet Thing” vom Regisseur Alexandre Rockwell, der auf der diesjährige Berlinale im Rahmen des Generation Kplus Programms vorgestellt wird.

Fernab der Realität

Nostalgie flutet durch die Sinne, als der Film mit einem altmodischen Schwarz-Weiß-Filter und Billie-Holiday-Musik eröffnet wird. Eine fast schon trostlose Stimmung, die sich in das einfache Leben der Protagonistin Billie mischt. Die 15-jährige Teenagerin, die nach dem Jazz-Idol benannt wurde, fantasiert sich ihre sonst so triste Welt mit Holiday als ihre Patentante. Ein wenig Glamour - eine wenig Magie - das sich das Mädchen selbst gestattet, denn in der echten Welt wartet nicht immer Frieden auf sie. Doch Billie hofft auf mehr. Und mit ihren Tagträumen, sowie Nico an ihrer Seite ist das Leben auch manchmal etwas tolles.

Leider kann auch ihre kindliche Unbefangenheit nicht den Tatsachen aus dem Weg gehen. Papa Adam trinkt - viel und unkontrolliert. Laut und lallend fällt er ins Bett, redet wirres Zeug. Ein Anblick, den Billie und Nico gewohnt sind. Eine Flasche zu viel und aus den Kindern werden quasi Eltern. Sie kümmern sich um ihn, wenn er es gerade nicht kann.

Und wenn Adam in der Lage ist, für seine Familie zu sorgen, sieht man ihn in einem Weihnachtskostüm arbeiten. Grotesk und irgendwie traurig wirkt er so, wenn er durch die Wohnung mit Flasche und im Kostüm hin und her torkelt. Es ist wie ein kaputter Kindertraum, welcher vor sich hindümpelt und zerbricht. Ein Gesamtbild, das selbst die Kinder „alt“ aussehen lässt. Man merkt ihre Müdigkeit und das Leid an, hinter ihren eigenen Vater aufräumen zu müssen.

Nico und Schwester Billie in ihrem ganz persönlichen Glück.

“Mother oh my…”

So hin und herreißend die Launen von Adam sind, so werden auch die guten Seiten an ihm beleuchtet. Und schnell versteht man als Zuschauer, dass der Familienvater in aller Mühe versucht, seinen Kindern ein gutes Leben zu geben. Heiligabend zeigt diese seltenen Momente der Glückseligkeit und Heiterkeit, die jedoch stets erschüttert werden. Es kommt wie es kommen muss: Der alkoholisierte Vater landet in Rehabilitationszentrum, die Kinder werden temporär zu ihrer Mutter geschickt. Und dort beginnt das Abenteuer.

Die sonst so abwesende Mutter Eve nimmt die Kinder der Not halber auf. Doch man merkt, dass ihre Aufmerksamkeit ganz woanders liegt: Zusammen mit den Kindern und ihren Partner Beaux verbringen sie gemeinsam Zeit in dessen Strandhaus. Es mag wie traumhaft wirken, doch für die Kinder steht fest, dass selbst dieser Ort kein Segen ist. Wie die Ironie es will, ist auch der neue Partner von Eve nicht ganz stabil. Ein Albtraum, der wiederum Billie und Nico zwingt neue Wegezu suchen.

Aufbruch ins Neue

Zusammen mit Malik, den sie zwischen den Booten und Strände New Bedford’s kennenlernen, befreien sich die Geschwister aus den Fängen von Beaux und begeben sich auf ein neues Abenteuer.Sie fahren mit einem gestohlenen Auto davon, erlauben sich den ein oder anderen und lassen sich einfach nur treiben in ihrer neu gewonnenen Freiheit. Malik mit seinem spitzbübischen Grinsen und Attitude öffnet Billie und Nico die Tore zu einer ganz neuen Welt – eine   voller Gelassenheit, die den Beiden bis dato unbekannt war.

Es ist diese ganz unverhohlene Naivität der Kindheit, dass den Zuschauer in den Bann zieht. Wie wäre es, einfach mal Verantwortung für eine Sekunde fallen zu lassen und im Moment zu leben? Das zu tun, wonach einem nach Herzenslust ist? Den Ernst des (Erwachsenen-)Lebens einfach mal weglachen? Es hat was ganz surreal-magisches, und doch fühlt es sich mit den Leuchten der Kinderaugen ganz nah und echt an.

Mit Glamour und Glanz: Billie fühlt sich ausgelassen mit Malik.

Im Auge des Betrachters

“Sweet Thing” wird durchgängig in der entsprechend stilistischen Schwarz-Weiß-Einstellung gedreht. Kurzzeitig wird dies mit der Ankunft der Kinder im Haus der Mutter aufgehoben. Zunächst erscheint alles noch perfekt und freudig zu sein, was mit farbenfroh-gesättigten Aufnahmen und lauter Musik betont wird. Es scheint wie eine tatsächliche Änderung - bis die Ereignisse eine deutliche Wendung nehmen und in die Negativität des Lebens zurückfällt und somit auch die Zuschauer in die alt gewohnte, gar nüchtern-taube B&W-Perspektive.

Lasse Tolbøll, der in dem Film die Kameraführung übernimmt, konzentrierte sich bei der Entstehung des Films vor allem auf sehr detailgetreue Aufnahmen. So nah wie man das ein oder andere Lächeln der Kinder einfangen kann, so fein zeichnet sich jede zarte Linie eines Grübchens auf der Leinwand ab. Man befindet sich mit den Augen so dicht am Geschehen, als würde man einzig mit dem Blick die Akteure berühren. Man fühlt, leidet und freut sich mit ihnen. Und jeder noch so kindliche Quatsch zaubert einem selbst ein Lächeln auf die Lippen.

Die Szenen wechseln währenddessen von engen, stickigen Räumlichkeiten in offene, helle Orte. So findet eine sehr ebenmäßige Überblendung von geschlossenen Zimmern in natürliche Landschaftsaufnahmen statt. Meer, Strand, Sonne & Windbewegungen - visuell wird genau dieses Stimmungsbild der totalen Leichtigkeit gezeichnet. Genau diese Entlastung kann man als Zuschauer mit Billie, Nico und Malik mitfühlen.

Bis in aller Ewigkeit

Doch jeder noch so schöne Traum findet ein Ende. Die ernsthafte Realität holte die “Streuner und Banditen”, wie es im Untertitel von “Sweet Thing” genannt wird, schnell wieder ein. Und so endete der Film in einem gespaltenen Happy End, das Veränderungen in allen Facetten wiederspiegelt - Gute wie auch Schlechte. Wehmütig wird man also am Ende des Films mit dem Gefühl entlassen, der eigenen Kindheit nachzutrauern.

Etwas Altes vergeht und etwas Neues beginnt - das scheint das Credo von “Sweet Thing” zu sein. Eine süße Sache - ja, so auch die Unverfrorenheit und Resilienz der Kindheit, aus dem nicht nur die Figuren dieser Geschichte ihre ganz besondere Lebensenergie ziehen. Auch wir als Zuschauer des Films kommen nicht drumherum, uns an den Freigeist unserer eigenen Kinderjahre zu erinnern. Zu erinnern, wie es war, fernab von den Grausamkeiten der Welt zu leben und das leichte Gefühl, wenn einem nicht alles auf den Schultern lastete.

Die Welt, wie sie von Billie, Nico und Malik geschafft wurde, folgt ihren ganz eigenen Regeln & Gleichungen und versprüht trotz (oder gerade wegen?) ihrer unterschwelligen Tristesse einen unverwechselbaren und glaubwürdigen Charme. Dynamisch und selbstbestimmt wie es nur Kinder sein können, erkennt der Film eben diese Einzigartigkeit unseres Lebens an - ein Teil von uns, den wir trotz aller Unterschiede alle kennen und in uns haben. Ein Teil, der uns gewissermaßen universal verbindet und anspricht. “Sweet Thing” ist somit ein Hommage an unsere eigene Ehrlichkeit, unser eigenes Leben und die Authentizität dahinter. Kind sollte man mal wieder sein... Was genau hält uns eigentlich davon ab?

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"Sweet Thing" Trailer (2020)

“Sweet Thing” von Alexandre Rockwell läuft ab dem 26. Februar 2020 im Rahmen der Berlinale in verschiedenen Kinos im Originalton mit deutschen Untertitel an. Weitere Informationen findet ihr hier!