Bulimie, Pop und weiße Wände

am 08.10.2019

Am 30.09 hat die Berliner Pop Band Tochter ihre Debütsingle bei der Show von Aron Boks namens „Eine Runde Kurze“ vorgetragen. Erst kürzlich wurde ihre Single „Anna“ veröffentlicht und sammelt rasend schnelle Klickzahlen auf Youtube, live sind sie vielversprechend, „sind heiß auf das Konzert“ sagen sie. Doch Pop, live und über ein sperriges Thema wie Essstörungen? Kann das funktionieren? Aber langsam:

Ja, es geht um Essstörungen!

Der Youtube Kanal Digster Pop veröffentlichte vor Kurzem ein Musikvideo der Single „Anna" des Berliner Duos TOCHTER, mit der Unterschrift „nur wenn du dich psychisch stabil genug fühlst.“  Oha - der alte Horrorfilmwerbetrick - jetzt erst recht anschauen.

Sofort öffnen sich zwei schmerzverzerrte Augen, schauen elektrisierend in die Kamera. Sie gehören zur Erzählerin, die eine ernste Ballade singt.

Kameraschwenker, dann endlich Auflösung der WO-Frage - kurzer verschwommener Zoom auf eine Kanüle: Klinikatmosphäre. Dazu ein treibendes Schlagzeug mit Streichern, die durch die Strophe melancholieren und Zeilen wie „Indianer kennen keinen Schmerz und haben niemals Appetit“ begleiten.

Achso - daher die „Triggerwarnung“ in der Videobeschreibung.

Ja, es geht um Essstörungen.

Kleine Studie zum Thema Essstörungen gefällig?

Die Zahl der Essgestörten in Deutschland hat sich laut der BZgA innerhalb der letzten zwanzig Jahre fast verdoppelt, gleichzeitig wird eine der tödlichsten psychischen Krankheiten immer noch unterschätzt.

Wenn Künstler*innen aus Erfahrung sprechen

Elise Eißmann (Gesang) war selbst betroffen und lange Zeit bulimisch. Ihr Songtext wurde zum Erfolg. Universal Music nahm die Band unter Vertrag und entschied sich den Song „Anna“ als Single auszukoppeln. Essstörungen gelten als Tabu und werden doch immer häufiger mit Pop zusammen wahrgenommen.

Wieso?

Das eine psychische Störung als künstlerisches Thema sich derartig aufdrängt, dass Major Labels themenspezifische Songs zu produzieren, Interesse erwarten und vielleicht sogar gewisse Vorkenntnisse voraussetzen, muss etwas bedeuten.

Ja, Essstörungen werden in der Gesellschaft wahrgenommen. Aber komprimiert und zusammengepackt, vereinfacht, wie es sich eben ertragen lässt. Das schafft Vorurteile und einen spürbaren Graben auf dem Empathiefeld der psychisch Kranken und den Gesunden.

Wenn Musik aufklärt

„Anna“ hat nicht den Anspruch eine Schlichtung zu sein. Nein, vielmehr stellt der Song einen Pop-geladenen Aufschrei, ein temperamentvolles Angekotzt sein, von irgendetwas, das sich aufstaut.

Was das ist wird ziemlich schnell, schon in den ersten Songzeilen klar. Es bleibt wenig Spielraum für Interpretation, dafür steigert sich der Text selbst mit Drastik in Rage. Und macht kein Geheimnis daraus, sich dafür am Offensichtlichen, fast schon an Klischeevorstellungen zu bedienen.

Allein der Titel bedient sich der Personifizierung von Anorexia Nervosa und nimmt Bezug auf „Pro Ana“ Gruppen - Onlineforen, in denen sich Betroffene gegenseitig zum exzessiven Hungern antreiben. Dazu beschreibt Eißmanns abgehackter Strophenstil aufbauend die Person „Anna“- ein junges Mädchen, das „auf Insta beliebt“ ist, die ihren Körper als Spiegel ihres Selbstwertes sieht. Typische Symptome, wie Schweigen und zu verheimlichendes Gähnen kündigen sich beim Hören an, verschwinden aber. Denn theatralische Fragen wie „Oh Anna, wieso tust du dir das an?“ verdeutlichen:  TOCHTER wollen nicht analysieren, sondern einen Ist-Zustand beschreiben - den einer beispielhaften Betroffenen, die für Viele stehen kann.

Der Refrain knallt den stammelnden Strophen die Realität auf den Tisch. „Du wirst ins Gras beißen“ ruft er und fängt damit einen aktuellen Gedanken und Konflikt ein, wie es nur durch Pop möglich ist. Auch wenn es eklig wird. Und aktuell ist der Song auf jeden Fall.

Warum sind solche Songs wichtig?

Vielleicht schafft der Song „Anna“ keine neuen Erkenntnisse im Bezug auf Essstörungen, sicher ist aber eins: Der Sound der Band und die authentisch wütende Performance wirken wie eine Kampfansage an eine tödliche Krankheit. Und der rüttelt wach und macht richtig Spaß.

Klicke hier, um das Video zu starten! Bitte beachte, dass dann ggf. Nutzungsdaten an den Video-Provider (youtube, vimeo) übertragen werden.

Wer ist Aron Boks?

2016 begann Boks ein Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft und später der Publizistik an der FU Berlin. Seine Bühnen-Karriere begann 2016 mit dem Sieg der Landesmeisterschaft in Magdeburg in der U20 Kategorie und der Stadtmeisterschaft Magdeburg im gleichen Jahr.

Nach mehreren Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturmagazinen erschien im Februar 2017 eine erste Textsammlung von Bühnentexten im Unsichtbar Verlag.

Nach diversen Arbeiten bei geförderten redaktionellen Workshops und der taz am Wochenende schrieb Aron Boks seinen ersten Roman, der im April 2018[3], nach Veröffentlichungen einer Textsammlung, einem Lyrikheft und einem Hörbuch, im Unsichtbar Verlag erschien.

Zudem moderiert er Poetry Slams und Lesungen in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin, ist Gründungsmitglied der Berliner Lesebühne „Style“und produziert gemeinsam mit Yusuf Rieger den Podcast "Turmtalk".[Quelle: Wikipedia]

Aron hat zudem ein Buch über Magersucht geschrieben, weil ihn das Thema selbst betroffen hat. „Luft nach Unten. Wie ich mit meiner Magersucht zusammenkam und mit ihr lebte.“ ist überall errhältlich.

ISBN 978-3-86265-777-3