Wie ist das Kind in das Fast-Food-Restaurant gekommen?

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am 03.07.2018

Theater ist speziell. Ich kann meine Meinung darüber einfach nicht ändern. Es ist nicht so, als hätte ich eine komplette Abneigung gegenüber dieser Art von Kunst und Expression. Ich gehe sogar gerne ins Theater. Aber ich kann auch verstehe, wenn man sagt: „Theater? Nein, das ist nichts für mich.“

Nach dem Instagram-Walk im GRIPS Theater am Hansaplatz wurde das Stück „Phantom (Ein Spiel)" aufgeführt. ‚Ein Spiel‘? Werde ich noch herausfinden, was das bedeutet. ‚Phantom‘? Ja, das verstehe ich. Denn niemand weiß zu wem das Kind gehört, das von fünf Mitarbeiter*innen in einem Fast Food Restaurant wird, als sie gerade das Lokal aufräumten. Weil die Polizei nicht weiterhelfen kann, beschließen die Kolleg*innen, zu mutmaßen. Wer könnte das Kind abgelegt haben? Und warum? Und genau dieses ‚Warum‘ wird nun in zwei Stunden Spielzeit untersucht. So entsteht in den Köpfen des Restaurantpersonal die Figur der jungen bulgarischen Immigrantin Blanka, die nach Deutschland kommt, um hier in einer großen Putzfirma zu arbeiten und so ihre Familie in der Heimat zu versorgen. Jeder der mitwirkenden Darsteller verkörpert diese junge Frau einmal. Ein Spiel mit der Fiktion und der Fiktion innerhalb der Fiktion, welche der Zuschauer lediglich durch Licht, zwischenzeitliche filmische Einspieler und andere Kostüme unterscheiden kann. Es wäre nicht modernes Theater, wenn die Umkleidung nicht, für jedermann sichtbar, auf offener Bühne stattfinden würde. Wenn nicht der alles bedeckende Overall fällt wird und einen lediglich von roter Spitzen-Unterwäsche bedeckten Körper entblößt. Wenn sich der männliche Darsteller nicht wie selbstverständlich eine weibliche Rolle inszeniert. Und wenn das Szenenbild nicht auch nur von den Darstellern verändert wird.

Eine Schulklasse sitzt neben mir und lacht viel. Einige sitzen auch am Handy und schreiben lieber mit Freunden, aber so, dass die Lehrer es nicht sehen. Ich sitze dort, friere, weil ich 15 Grad am Abend überschätzt habe. Ich merke, dass ich müde werde, aber irgendwas hält mich wach. Ich möchte wissen, wie das Kind dort hin gekommen ist. Also höre ich mir die Version der Kollegen an und warte ab, ob es am Ende eine Aufklärung gibt. Ich möchte entscheiden können, welche Version mir besser gefällt - ein Polizeibericht oder das Ende der Geschichte der Fast-Food-Mitarbeiter*innen. Ich muss aber mit voranschreitender Zeit feststellen, dass ich keine Vergleichsoption bekommen werde.

Begeisterung wider Erwarten

Im Nachhinein brauche ich diese auch gar nicht, denn mir gefällt die Ende der Fiktion in der Fiktion. Mich überzeugt, die Geschichte einer Bulgarin, die gezwungen wird nach Deutschland zu kommen. Sie ist gebildet, im Gegensatz zu vielen in ihrem Alter. Und sie ist mutig, weil sie entschieden hat, so jung, wie sie ist in ein fremdes Land zu gehen. Um zu arbeiten. Um zu leben. Allein auf sich gestellt. Das Motiv des Aufbruchs aber auch des Mutes, welches sich durch das Stück ziehen, machen „Phantom (Ein Spiel)“ zu einem Stück, dass durchaus ins GRIPS Theater passt. Denn auch wenn die Altersfreigabe 16 ist - das Stück enthält pädagogisch wertvolle Motive auch für jüngere. Und das GRIPS Theater wurde bekanntlich für Kinder gegründet. Mir gefällt, dass Klischees dargestellt, aber auch kritisiert und abgelehnt werden. Ja, Blanka geht ausgerechnet in das wirtschaftlich starke Deutschland um Geld für ihre Familie, besonders für ihren kranken Vater, zu verdienen. Ja, sie wird von den Eltern dazu gezwungen und ja, der Plan geht schief, es gibt keinen Job in Deutschland und Blanka muss sich selbst Arbeit und Geld verschaffen. Deutlich wird aber auch, dass die Figur der Blanka von Beginn an so aufgebaut ist, dass sie im späteren Verlauf dazu benutzt werden kann Vorurteile zu brechen und zu beheben. Nein, Blanka prostituiert sich nicht. Nein, Blanka wird nicht ungewollt durch eine Vergewaltigung schwanger und legt das Kind aus Verzweiflung ab. Nein, Blanka fängt nicht an zu klauen und andere Leute auszubeuten, nein.

Oh Pause. Ich sitze ohne Akku im Theater und fange an, mir die anderen Stücke, die das GRIPS Theater spielt, in einem Prospekt durchzulesen. Ich sollte mal den Klassiker „Linie 1“ anschauen gehen. Während des Walks wurde viel darüber geredet. Auch wenn ich keine Theater-Fanatikerin bin-ich werde wieder her kommen. Noch viel lieber, wenn man mich nicht weiter auf die Folter spannen möchte. Ich fange nämlich gerade an, mich für die Figuren zu interessieren. Glück gehabt, es geht weiter.

Strukturierte Themenvielfalt

Neben der Immigranten-Geschichte wird die soziale Ungleichheit in Deutschland aufgegriffen und weitere Figuren erstellt. Man könnte meinen, das Gewusel auf der Bühne wird unübersichtlicher, wenn fünf Personen über 20 Figuren darstellen möchten. Die einfachen weißen Kostüme, die einfach erweitert werden, machen den Überblick jedoch relativ strukturiert. Auch die sprachliche Veränderung, sei es durch Soziolekt oder Dialekt, werden die Charaktere gut differenziert, sodass man auch das Spiel im Spiel sehr gut erkennt. Der Untertitel ‚Ein Spiel‘ wird mir zwar erst klar, als ich das Gesehene verarbeite, aber auch währenddessen ist die Metafiktion und das Spiel mit den Perspektiven und Positionen des Geschehens das, was das Stück unglaublich interessant, sehenswert und dazu modern machen.

Mir gefällt, dass man sich für dieses Stück viele Gedanken gemacht hat und nicht das nächstbeste zusammengeführt hat. Dazu muss man auch sagen, dass die Darsteller*innen einen tollen Job gemacht haben. Ich stelle mir die Erschaffung der Figur Blanka im Prozess der Stückentwicklung schwierig vor. Umso besser gefällt mir letztendlich, dass Blanka innerhalb der Fiktion der Fast-Food-Restaurantangestellten variabel dargestellt wurde und das die Figur dadurch so viele Facetten bekam. Ohne 'Ein Spiel' wäre das schwer möglich gewesen. Die Idee, finde ich sehr passend, um die Individualität aller Menschen auszudrücken und so im gesamten Stück, Vielfalt auf unendlich vielen Ebenen thematisieren zu können.

Ich wurde überzeugt, dem Theater immer aufs Neue zu vertrauen. Denn jedes Stück ist anders. Klar, auch jeder Film unterscheidet von den anderen. Zum Beispiel in Handlung, Handlungszeit, Handlungsort, Kameraführung und so weiter. Aber im Theater weiß man nie, was einen erwartet. Die Schauspieler dort sind nicht wie Filmstars. Das Theater kann skurriler erzählen, Theater weist ganz andere Schamgrenzen auf als Filme oder Serien. Vor Allem Theater ist life - alles passiert genau in diesem Moment vor deinen Augen. Es ist wahrhaftig auch in seiner Fiktion und hat immer eine klar erkennbare Moral.

Die Moral von „Phantom (Ein Spiel)“ ist, dass man nicht immer das glauben soll, was man auf den ersten Blick zu wissen scheint. Dass man es nicht zulassen darf, dass Vorurteile den Blick auf die Welt bestimmen. Dass man mit Mut und Vertrauen und vor allem Willensstärke so viel erreichen kann und dass die Phantasie manchmal alles ist. Ich habe kein richtiges Ende bekommen, bei welchem das Spiel mit der Fiktion aufgelöst wird. Aber ich habe eine spannende Inszenierung bekommen mit einer tollen Geschichte und vielen inspirierenden Charakteren. Und ich denke, damit hat das Theater seinen Bildungsauftrag, auch für (junge) Erwachsene, erfüllt. Und das Stück hat mich motiviert, weitere Stücke anzusehen. Denn es ist nochmal viel schöner, die Emotionen live und abstrakt wahrnehmen zu können, als andere fiktive Handlungen vor einem Bildschirm.

Ihr seid neugierig geworden? "Phantom (Ein Spiel)" ist ab dem 04.September 2018 wieder auf der Bühne des GRIPS Theaters am Hansaplatz anzusehen. Weitere Informationen findet ihr hier.