Buchrezension: Fantastic Stories for Fearless Girls

von
am 20.05.2020

15 Erzählungen aus aller Welt für starke Heldinnen!

Ich habe das Lesen schon immer über alles geliebt. Bereits als kleines Mädchen hat es mir immer unglaublich viel Spaß gemacht, in Bilderbüchern erwartungsfreudig auf die nächsten Seiten hin zu schmökern, auch wenn ich mich anfänglich noch schwer mit den Buchstaben getan habe. Ein kleines bisschen eigenartig schien ich dabei schon: Ich konnte echt überall ein Buch ausgraben und sofort in den Seiten meines Wälzers rumblättern, egal wie. Während andere Kinder also viel draußen rumtollten, habe ich mich gerne und oft in irgendeine gemütliche Ecke gesetzt und das nächste Abenteuer in meiner blühenden Fantasie erlebt. 

Schon damals mochte ich, wenn es in Geschichten so richtig zur Sache ging: Ein bisschen Action musste immer sein! Märchen sind eben das erste, was einen als Kind neugierig macht. Ich war sofort gefesselt: Drachen, Schlösser, Zauberei… all das zog mich mit großer Freude in den Bann. Damals dachte ich: Wie cool es doch wäre, wenn man magische Kräfte hätte und Dinge machen könnte, die in der Realität gar nicht möglich sind! Der Gedanke daran war einfach nur brillant, gar genial in meiner Vorstellung. Ein Impuls, welcher meine ganze Kindheit auf eine ganz eigene, magische Art und Weise beflügelte.

Somit war meine Liebe zu Geschichten und auch dem Schreiben geboren. Ich wäre heute also nicht hier, würde nicht in diesem Moment vor mein Laptop hocken, während ich diesen Artikel schreibe, und mein großes Bücherregal anschauen (das im ganzen Haushalt neben der Technik wohl mit Abstand mein größtes Heiligtum ist - sehr ulkig, ich weiß). Auch ich bin Geschichtenerzählerin, dank meiner Leidenschaft für die Literatur und insbesondere die Märchen, die mich in meiner Kindheit geprägt haben.

Es war einmal… eine Frage?

Während ich also heute noch in die alt-sowjetischen, zerfledderten Märchen-Heftchen gucke, welche früher bereits meinen Eltern vorgelesen wurden, kräuseln sich meine Augenbrauen bei einem bestimmten Gedanken. Immer wieder erinnere ich mich an die eigenartigen Erzählungen, die ich als Kind gelesen hatte. Klar, fantastisch über die Maße waren sie alle, aber irgendwas hat sich schon damals in meinen Kopf eingebrannt. Warum genau sind es nahezu immer Prinzen oder andere Buben, die ein Königreich, ein Volk oder eine Prinzessin retten müssen und den Sieg davontragen? 

Irgendwie schien mir das etwas suspekt. Ich meine: Good Job, Jungs, wirklich jetzt! Würden vor mir ein Drache mit mehreren Köpfen oder eine ziemlich schlecht gelaunte Hexe stehen, wäre mir auch recht unwohl und schlottrig in den Beinen. Dass ihr das mit Bravour gemeistert habt - coole Sache, das muss man euch lassen! Aber was machen denn die Prinzessinnen die ganze Zeit? 

Däumchen drehen und warten, bis jemand kommt, um sie zu retten und ihr Leben endlich zu ändern? Also mal ehrlich, was ist das eigentlich mit Dornröschen? Sie tut im Verlauf der Geschichte eigentlich nichts anderes, als die ganze Zeit nur ein ausgedehntes Nickerchen zu halten, und die Geschichte wurde sogar nach ihr benannt! Also, da geht doch wohl noch mehr für Ihre Hoheit, oder? Irgendwie scheint es in der weiten Märchenlandschaft an Heldinnen zu fehlen, die mal ihr Glück selbst in die Hand nehmen. Warum also nicht mal den ganz Spieß umdrehen? Also Ladies, ran an die Rüstungen und Waffen!

"Fantastic Stories for Fearless Girls", eine Nacherzählung von Anita Ganeri.

Fantastic Stories for Fearless Girls

Genau darum geht es auch in dem nächsten Buch, dass ich in meine Märchensammlung nun aufgenommen habe: “Fantastic Stories for Fearless Girls”, eine Nacherzählung von Anita Ganeri mit 15 Geschichten aus aller Welt, vereint die unermüdliche Tatkraft und den Mut von jungen Mädchen und Frauen mit der Vielseitigkeit von Kulturen, quer über den Erdball verteilt. Vom Sudan in Afrika, bis hin nach Japan in Asien und natürlich auch in Europa und Amerika gibt es verschiedene Erzählungen, in denen es in erster Linie auf die Entscheidungen und Beweggründe der weiblichen Charaktere ankommt. Kein Bluff: Diese Geschichten gibt es wirklich!

Alle Geschichten können unabhängig voneinander und querbeet gelesen werden. Die Märchen sind im Grunde durch ein und dieselbe Essenz verbunden. Junge Heldinnen müssen sich einer scheinbar unlösbaren und schwierigen Aufgabe stellen, welche ihr Leben und das ihrer Mitmenschen bedroht. Spannend hierbei ist, dass sich die Mädchen nicht irgendwelcher übermenschlicher Kräfte bedienen. Es sind vielmehr ihre Klugheit, Fähigkeiten und Präzision in der Ausübung ihrer Taten, die diesen starken Figuren am Ende den Sieg bringen. Dabei riskieren sie ihren eigenen Kopf und setzen ihr Willen durch, um eigene Entscheidungen zu treffen, anstatt als Opfer in ihren Umständen zu verharren.

Zwischen Welten & Sinnen

Als Leser fühlt man sich mit diesem Sinnbild sehr verbunden, weil man mehr oder weniger auch ein Stück weit Realität in diesen scheinbar fantastischen Welten erkennen kann. Denn es braucht nicht einen unmöglichen Akt an magischen Kräften, um für sich selbst zu kämpfen und das Richtige zu tun - etwas, das wir aus diesen Erzählungen in unsere ganz persönliche Geschichte mitnehmen können. Durch diese Idee wird eine wichtige Botschaft vermittelt, die vor allem jüngeren Leserinnen ein Mehrwert bietet.

Dass Geschichten - und in diesem Zusammenhang konkret das bewusste Konsumieren von Literatur - nicht nur für die Sprachbildung förderlich, sondern auch einflussreich für das eigene Menschenverständnis sind, zeigen Märchen immer wieder. Wie bereits vorhin erwähnt sind es meist die ersten Fremd-Perspektiven, die man im frühkindlichen Alter kennenlernt. Wer sind die Figuren in den Erzählungen? Was macht sie aus? Was beschäftigt sie, und in welchen Beziehungen stehen sie zueinander? Allen voran kommt natürlich die Frage: Welche Konsequenzen bergen das Verhalten und die Handlungen der verschiedenen Charaktere?

Abenteuergeschichten mit wunderschönen Illustrationen von Khoa Le.

Von Bilder, die uns prägen

Somit ist es meist eines der ersten Konfrontationserlebnisse, die auf eine spielerische Art und Weise an Kinder herangetragen werden. In Märchen wie diesen erfahren und entdecken sie eine neue Persönlichkeit und das Bewusstsein außerhalb ihrer eigenen Wahrnehmung sowie der gewohnten Ich-Perspektive. Mit sogenannten Archetypen - ein Sammelbegriff aus der Psychologie, mit dem Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster in einem kollektiven Unterbewusstsein reflektiert werden - schaffen es Geschichten dann wiederum, die eigenen Gedanken mit denen anderer zu verbinden. 

Klingt wirr und kompliziert, ist aber eigentlich ganz logisch. Indem Kinder Erzählungen von Moral und Tat hören, schafft sich ganz automatisch ein “Urbild” in ihrem Unterbewusstsein - was sich fortan ganz massiv auf ihr Verhalten auswirkt. Das Bild selbst kann durch eine bestimmte Figur oder ein Setting symbolisiert werden. Im Falle von Sagen mit starken Kriegerinnen und Heldinnen, wie sie in “Fantastic Stories for Fearless Girls” illustriert werden, lernen kleine Leser und Leserinnen ein ganz neues Bild kennen: Sie nehmen gezielt die starke Präsenz einer weiblichen Figur wahr und können ihre Handlungsmotive ganz genau nachvollziehen. Das schafft nicht nur ein Grundverständnis von der Existenz einer solchen Persönlichkeit, sondern auch für die/den eine*n oder andere*n noch einen Identitätsfaktor. Schlussendlich sind diese Kriegerinnen also quasi ein Spiegelbild von uns selbst und unseren Handlungsmöglichkeiten. Wir sehen uns in ihnen.

Einmal um den Globus

Und dieses Spiegelbild hat viele Gesichter, denn das Besondere an dem Buch ist und bleibt die Vielfältigkeit der Figuren und Schauplätze. Wir lernen beim Lesen verschiedene Kulturen, Bräuche und auch Wertvorstellungen kennen. Manchmal überzeugen unsere weiblichen Protagonistinnen mit exzellentem Scharfsinn und Überlegung, manchmal müssen sie sich an ihren physischen Kräften und ihrer Flinkheit messen lassen. 

In jedem Falle macht es richtig Spaß, die einzelnen Persönlichkeiten bei ihren Abenteuern weltweit zu begleiten. Manchmal geht es um Herausforderungen in ihren eigenen vier Wänden, manchmal verschlägt es sie nach Übersee. Es gibt immer viel Bewegung, geschichtliche Wendungen (was die Heldinnen jedoch nicht daran hindert, ihr Abenteuer zu meistern), sowie den ein oder anderen Schmunzelmoment - immerhin, Klugheit erfordert auch Kreativität!

Tatsächlich erlebte ich beim Lesen auch eine schöne Überraschung: Eine der Geschichten, welche aus dem Balkan bis in den südkaukasischen Raum bekannt ist, kommt tatsächlich aus Armenien, dem Land also, in dem ich meine Wurzeln habe. Ich kannte die Erzählung zwar noch nicht, aber ich fand es toll, auch das Heimatland meiner Eltern in diesem Erzählungsband repräsentiert zu sehen.

Einmal um den Erdball verteilt: Das Sammelband ist auch eine kleine Reise in verschiedene Kulturkreise.

Das Abenteuer kann beginnen!

Ob jung oder alt, Lesejunkie oder nicht: Ich finde, jeder sollte es sich vornehmen, wieder mal durch ein Märchenbuch zu blättern. Warum auch nicht? Das träumerische Kind in sich aufleben zu lassen, ist in jedem Alter möglich. Bereits zu meiner Zeit als Lesepatin in einem Kindergarten habe ich den Kindern immer gesagt, dass sie sich ihre Fantasie nicht nehmen lassen sollen. Kreativität und die schöpferische Vorstellungskraft sind die die schönsten und wertvollsten Fähigkeiten, die ein Mensch besitzen kann. Das sollten wir bei Kindern stets fördern.

Wie schön, dass es dann sowas wie Märchenbücher und Erzählungen gibt, die diesen gedanklichen Freiraum geben. Die  tollen Geschichten und die wunderschönen Illustrationen von Khoa Le machen dieses Buch zu einem bezaubernden Sammelwerk mit einer eindringlichen Botschaft. Furchtlos zu sein bedeutet nicht, keine Angst und Sorgen zu haben oder sich nicht selbst anzuzweifeln. Im Gegenteil, denn die Heldinnen jedes Märchens zeigen: Furchtlosigkeit ist die Kunst, gerade diese Ängste zuzulassen und sich trotzdem den Gefahren und Problemen des Lebens zu stellen. Das ist dann eine Form der Ehrlichkeit und wiederum ein Akt an Mut. Und darin mündet letztendlich die wahre Stärke - und wahres Heldentum. In diesem Sinne sei gesagt: Egal, welche geschlechtliche, kulturelle oder soziale Identität man auch haben mag, wir sind alle Held*innen.

Kämpfernatur: Heldinnen wissen, für was sie sich einsetzen!

“Fantastic Stories for Fearless Girls - 15 Erzählungen aus aller Welt” aus dem Ullman Verlag ist ab sofort in allen Buchhandlungen und Online-Shops erhältlich. Ein absolut zauberhaftes Must-Read, das ihr euch nicht entgehen lassen solltet!