Freischwimmen - Entgegen aller Vorgaben

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am 15.04.2019

In heutigen Zeiten sind wir über so einige Bewegungen geprägt und stets informiert - nicht fern liegen dabei fundamentale Schritte der Frauengeschichte. Gerade wenn es um die Rolle der modernen (selbst-)bewussten Frau geht, gibt es Aufmerksamkeit und so einiges zu diskutieren. Egal, ob man von der politisch Rechten, der gesellschaftlichen Präsenz oder schlicht ergreifend dem alltäglichen Umgang mit Frauen spricht; nicht überall auf dem Erdball sind Frauen vollkommen gleichberechtigt.

Dass es definitiv Lücken gibt, die beglichen werden müssen, steht außer Frage. Doch manchmal lohnt es sich auch auf diesem Weg einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Sich mal aktiv vor Augen zu führen, was für Meilensteine potentielle Chancen auf Selbstbestimmung freigesetzt haben - und somit den weiteren Weg geebnet haben.

So eine individuelle Geschichte erzählt Flurinda Raschèr-Janett in ihrer Autobiografie “Freischwimmen - Eine Frauengeschichte aus dem Engadin”. Eine Geschichte, die nicht nur ihre persönliche Welt bewegte, sondern auch ganz simple aber wichtige Fragen aufwirft wie: “Warum sind Dinge so, wie sie sind - und wie kann man das vielleicht zum Besseren ändern?”

Passend zu ihrem runden 80. Geburtstag blickt Raschèr-Janett auf ein Leben voller Kämpfe, lebendigen Erinnerungen, aber auch mal Zweifel zurück. Nicht einfach war der Marsch durch ein reglementiertes Umfeld voller Vorgaben, welche nicht unbedingt begünstigend für Frauen waren.

Die Anfänge

Geboren 1938 in Seraplana und später in Strada aufgewachsen (Region Unterengadin, Ostschweiz) wird Flurinda zunächst recht streng erzogen. Die Mutter, tüchtig und ambitioniert, fordert und fördert ihre Tochter und ihre drei Brüder immerzu. Bereits als Kind genießt die kleine Flurinda die musikalische Ausbildung am Klavier. Die Musik - eine Leidenschaft, die sie von ihrer musikgeprägten Familie früh in die Wiege gelegt bekommen hat. Ihr Großvater Mennin Janett feierte Erfolge als Dirigent auf Musikfesten, später wird auch Raschèr-Janett selbst Präsidentin einer Musikschule. Doch dieser Pfad bleibt bei weitem nicht der einzige, den sie beschreitet.

Charmant und natürlich spricht diese selbstbewusste Frau von kleinen und großen Momenten, die sich in ihr verfestigt haben. Momente der Freundschaft, des Zusammenhalts, auch die der Trennung. Bereits in ihrer Ehe mit Curadin Raschèr kommen erste Fragen auf, die einen zum Grübeln bringen. Trotz Ausbildung wird sie bei Bewerbungen in Susch benachteiligt, nur ihr Mann hat zudem das rechtliche Befugnis: Verträge landen auf seinem Schreibtisch, die Arbeit leistet dennoch weitestgehend Flurinda. Unfair, doch schwierig zu lösen, denn “(...) in vielen Dingen hatten wir Frauen (einfach) nichts zu sagen”.

Umbruch

Doch so lässt sich Flurinda Raschèr-Janett nicht alles gefallen. Erster Argwohn kommt auf, als sie in vereinzelten Konflikten aneckt. Seien es Diskussion um kontroversen Themen oder der öffentliche Druck gegen gesellschaftsrelevante Institutionen; politische Äußerungen einer Frau seien “nicht wünschenswert”, Susch begegnet der “Strada-Frau” mit viel Kritik.

Auch die Ehe neigt sich allmählich dem Ende, mit der Trennung folgt auch der Umzug nach Scuol. Für Flurinda, die bis dahin erfolgreich Karriere gemacht und diese Arbeit in Balance mit ihrem Familienleben als Mutter von drei Kindern bringen musste, ist das eine neue Erfahrung. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, meistert sie diese Aufgabe gekonnt. Die Ehekrise verleitet sie dazu, sich abermals neu zu definieren, vielleicht auch wiederzufinden, und fortan über sich hinauszuwachsen.

Über sich hinaus

“Crescher e madürar” - “Wachsen und werden” - so lautet ja auch der Titel ihrer Autobiografie im romanischen Teil des Buches. Veränderungen und das Bestreben jenseits einer vorgegeben Komfortzone; das ist das, was Raschèr-Janett vorantreibt. Mut zu mehr, dazu fordert die gebürtig stolze Engadinerin. Nur wer wagt, kann gewinnen - denn eine Stimme hat jede*r, die er oder sie nutzen kann. Flurinda nutzte ihre Stimme gegen Konventionen und Beschränkung, suchte kontinuierlich nach Auswegen und Lösungen und warf konfrontativ, aber geschickt den Deckmantel der Verunsicherungen ab.

Flurinda Raschèr-Janett, dessen Vorname das symbolische Sinnbild der Blume ist und soviel bedeutet wie “die Blühende”, kann in der Tat ein Aufblühen ihres Lebens beobachten. Anfänglich noch wie ein kleiner, feiner Samen - und später entwickelten sich Wurzeln, Spross und Blätter. Die Pflanze wurde immer individueller, und selbst der Regen konnte sie nicht aufhalten. Im Gegenteil, es machte sie nur stärker. Auch wenn Frau Raschèr-Janett sich selbst dann doch anderweitig vergleicht: “Ich sog alles in mich auf wie ein ausgetrockneter Schwamm”. Richtig so, denn nur durch Lernen konnte sie wachsen.

Fazit

Eine schöne Erzählung, dessen Aussagekraft trotz - oder gerade wegen - der simplen Klarheit dieses Werdegangs nicht dynamischer sein könnte: Steh zu dir selbst und deiner Einzigartigkeit, denn es ist dein gutes Recht. Auch Flurinda Raschèr-Janett zeigt in ihrer ganz einzigartigen Geschichte, dass so manch Umwandlung auch Neugestaltung bedeuten kann. Bedenken und allgemeine Skepsis ist nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Denn erst diese innere kritische Stimme kann viele Einsichten klarstellen und dann auch anderen Widersachern standhalten - natürlich mit guten Absichten Also: Schwimm dich frei, und zwar dorthin, wo vielleicht nicht alle hinschwimmen. Und dann schwimmen bestimmt andere hinterher...

Im Anschluss noch ein Interview mit der Autorin Flurinda Raschèr-Janett:

1) Frau Rascher-Janett, zu Beginn erzählen Sie uns von Ihren Anfängen - damit verbunden auch Ihre musikalischen Tätigkeiten. Was bedeutet Musik für Sie allgemein?  Und welche Bedeutung hatte Musik in Ihrer Vergangenheit?

Musik war oder ist immer in meinem Leben und in meiner Familie ständig präsent. Schon als Kind haben ich viel gesungen. In der Familie meines Vaters war Musizieren so etwas wir der Lebensmittelpunkt, etwas ganz Zentrales. Seit meinem 16. Geburtstag war ich immer in einem Chor – bis heute. Zeitweise habe ich sogar in einem bis drei Chören gleichzeitig mitgesungen. Dem „Rude da chant Engedina“, einem regionaler Singkreis, habe ich 40 Jahre angehört. Musizieren ist mein Lebenselixier.

Ich durfte in einer offenen Familie aufwachsen, wo Musik und Gesang zum Alltag dazugehörte. Zwar war meine Mutter sehr streng, sie hatte was dagegen, wenn das Musizieren überhand nahm. Als ich 9 Jahre alt war, hat sie unser Klavier verkauft, weil sie meinte, Klavierspielen hielte mich vom Lernen in der Schule ab, aber ich habe dann heimlich auf dem Harmonium in der Kirche weiter geübt. Die Freude am Musizieren und Singen kann man mir nicht verbieten. 

2) Wenn Sie an Ihren Großvater, Mennin Janett, zurückdenken, was denken Sie: Wie sehr hat seine Begeisterung, sein Engagement und sein Tatendrang Ihren Charakter inspiriert und geprägt?

Schon als Kind verbrachte ich viel Zeit in Tschlin im Hause meines Großvaters. Dort gehörte Musizieren zum alltäglichen Leben dazu. Auch das Theaterspielen. Einige meiner Vetter, die mit im Haushalt meines Großvaters wohnten, haben sich ganz der Musik verschrieben. Sie wurden Lehrer und Dirigenten. In meiner Kindheit und Jugendzeit fehlte in unserer Familie das Geld, um eine solide musikalische Ausbildung zu bekommen. Das ist heute anders.

Mennin Janett hat mich sehr geprägt. Er hat in mir die Liebe zur Musik geweckt. Seine Musikleidenschaft hat die ganze Familie angesteckt, meinen Vater, meine Cousins und Cousinen.  Die „Frenzlis“ - fast alle Mitglieder dieser schweizweit bekannten Musikgruppe, gehören zur Familie Janett – haben ihre Wurzeln in Tschlin. Sie tragen das Musiker-Gen von Mennin in sich.

3) An einer Stelle in Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass die Kirche "sich nicht traut, neue Formen kirchlicher Arbeit" einzuführen und vermuten sogar eine Verhinderung jeder Veränderbarkeit. Gerade wenn Sie an Ihre eigene Geschichte denken: Wie relevant und wichtig ist Ihrer Meinung nach die Fähigkeit, Veränderungen anzustreben und zu begünstigen - was für einen Einfluss hat das auf Ihre Lebenseinstellung?

Leben zeichnet sich dadurch aus, dass es in Bewegung ist, das es sich dauernd ändert, aus Kindern werden Erwachsene, Neues wird jeden Tag erfunden, aber Neues ist in einem Jahr schon alt. Durch die offene Art meiner Eltern habe ich gelernt, neugierig zu sein, und das, was angeblich „immer schon so war“ kritisch zu hinterfragen und auch das, was nicht gut war, zu ändern. Veränderungen sind das Tor zur Zukunft. Manchmal hat es viel Mut und Engagement sowie einen langen Atem gebraucht, um das durchzusetzen, von dem ich überzeugt war. Ich habe dabei in meinem Leben oft Widerstand erlebt. Im Engadin können die Menschen sehr traditionell und beharrlich sein. Die Tradition wird groß geschrieben, auch in der Institution „Kirche“. Immer dann, wenn ich Freunde und Freundinnen sowie Verbündete für eine Idee hatte, war das einfacher, bei seinen Überzeugungen zu bleiben. Wir konnten uns gegenseitig stärken. Mein ganzes Leben lang ist es mir wichtig gewesen, zu meiner Meinung zu stehen, auch wenn die Mehrheit dagegen war.

4) Gab es bei der "Berner Wache" eine Auseinandersetzung oder auch mal hitzige Diskussion, dessen Aspekte Sie ins Grübeln gebracht haben?

Im Kreis der „Wachfrauen“ in Bern waren wir davon überzeugt, dass unsere täglichen Wachen die Menschen für die politische Situation damals in der Schweiz sensibilisieren. In meinem persönlichen Umfeld zu Hause gab es oft Kopfschütteln und Unverständnis für uns Frauen. Viele im Engadin waren der Meinung, Politik sei nichts für Frauen, das ist Männersache. Andere sagten; „Das bringt ja sowieso nichts.“ Ins Grübeln hat mich das nicht gebracht, nur geärgert. Heute traut sich kaum einer, solche „gestrigen“ Sprüche laut zu sagen. Doch die Gemeinschaft der Frauen, der Gleichgesinnten, hat mir Mut gemacht. Die ganze Aktion lebte von der Solidarität der Frauen untereinander. Und später ist es uns je auch gelungen, zu verhindern, dass die Olympischen Spiele im Engadin stattfinden sollten.

5) Widerstände ließen Sie wachsen und gaben Ihnen den Mut, sich selbst zu finden - und dabei eine Tür für andere zu öffnen. Gab es für Sie einen besonderen, vielleicht persönlichen Moment der Dankbarkeit, an den Sie sich erinnern können?

Bei meinem Einsatz war es mir immer wichtig, andere, oft Frauen mit einzubeziehen und nicht einfach etwas alleine zu machen.So war das auch beim Aufbau der Musikschule. Ohne die Zusammenarbeit mit den vielen Musiklehrern und -lehrerinnen aus Österreich und Italien, wäre das gar nicht möglich gewesen. Freundschaften haben sich daraus entwickelt, die bis heute halten. Das war auch bei der Aufführung der „Zauberflöte“ mit circa 500 Schülern und Schülerinnen so. Bei den Behörden herrschte Skepsis, sie waren soviel Engagement nicht gewohnt. Aber alle Mitwirkenden waren mit großem Eifer und großer Freude dabei. Wenn Freude, Begeisterung und Freundschaft zusammenkommen, dann kann Vieles gelingen.

6) Im Anschluss führen Sie ein Zitat Ihres Freundes und Co-Autors Lothar Teckemeyer an, sowie eine Blumenzeichung von Jacques Guidon. "Wachsen und Werden", das ist ja auch der Titel im Romanischen Teil des Buches. Glauben Sie, im Prozess der Frauengeschichte, dass das Ziel greifbar ist, oder dass wir einen langen, immer fortwährenden Weg vor uns haben?

Das  Buch „Wachsen und reifen/ Freischwimmen“ hat bei unseren ersten Präsentationen in der Schweiz bei vielen Menschen großen Anklang gefunden. Viele Frauen haben mir gesagt, dass ihnen meine Geschichten gut getan haben. Sie sagen: „Ja, so war es.“ - Einiges hat sich tatsächlich in den letzten Jahren bewegt. Wenn ich mich aber umschaue, merke ich, dass es noch viel zu tun gibt. Das Ziel einer Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist noch lange nicht erreicht. Es gibt immer noch nicht den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit. Oder schauen wir auf unsere Umwelt: Das Geldverdienen ist wichtiger als sich gegen den Klimawandel zu stemmen. Da spielt die Angst vor Machtverlust eine große Rolle. Vielen fehlt Selbstvertrauen, andere schauen nur ohnmächtig zu. Es gibt noch viel zu tun...

7) Wir sind ja ein Jugendportal: Was wäre denn Ihr Rat oder Ihre Botschaft an junge Menschen, egal ob weiblich oder männlich? Was würden Sie gern den nächstfolgenden Generationen mitteilen oder auf den Weg geben?

Ich denke wir müssen vermehrt Gemeinschaften fördern und Vertrauen in die Menschen haben. Zusammen können wir einiges erreichen. Die meisten wissen doch, was gut und richtig für uns Menschen und unsere Welt ist. Dabei müssen wir auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und lernen, zuzuhören. Wir sollten sensibler miteinander umgehen sowie uns respektvoll begegnen. Wir dürfen nicht aufhören – und ich beziehe mich damit ein – uns selbst in Frage zu stellen. „Ist das richtig, so wie ich lebe?“ - „Kann ich etwas anders, besser, machen?“ Ja und dann nicht nur beim Fragen und Nachdenken bleiben, sondern auch Konsequenzen ziehen und tatkräftig etwas tun. Was klein unter Freund*innen anfängt kann vielleicht einmal eine große Bewegung werden.