#jufo 2021: Furcht - Ein Gedicht über Existenzverlust und Heimatlosigkeit

von
am 30.06.2021

Wir Redakteur*innen vom Berliner Jugendforum 2021 sprechen ja über sehr viele und vor allem unterschiedliche Themen, die uns beschäftigen. Themen, die uns ans Herz gehen, mit denen wir selbst konfrontiert wurden und zu denen wir - oder Menschen, die wir kennen - immer in irgendeiner Form Bezug haben. Sehr oft finden aber auch gesellschaftliche Prozesse in anderen Teilen der Welt statt, die uns augenscheinlich nicht direkt betreffen. Und das, obwohl es sich um sehr wohl für uns und allgemein universell relevante Wandlungen handelt.

Vor einiger Zeit schrieb ich mal ein Gedicht zu dem Krieg in der Republik Arzach, der jüngst im Jahr 2020 stattfand. Natürlich griff ich mit diesem Gedicht meine eigene Geschichte zu diesem schwierigen Thema auf. Da dort - in der Republik Arzach - auch meine Wurzeln liegen und ich logischerweise ziemlich viel über dieses Ereignis nachdenke, beziehungsweise mich damit auseinandersetze. 

Jenseits dessen frage ich mich manchmal: Wie wäre es, wenn ich dort geboren wäre? Wenn ich nicht diese Privilegien hätte, mit denen ich jetzt lebe? Wie wäre es, wenn jede*r von uns eben nicht das Glück hätte, nicht solche Umstände tagtäglich zu erleben? All diese Fragen schwirren mir also durch den Kopf, während ich merke, dass das alles im Grunde genommen Fragen des Zufalls sind. 

Es geht um Menschenrechte, Heimat, das Gefühl von Zugehörigkeit... alles Aspekte, die jede*r von uns sich wünscht und braucht. Und doch schauen wir oftmals nur auf unser eigenes Leben, anstatt uns darüber bewusst zu sein, dass andere Menschen fundamental sehr ähnliche Sorgen, Ängste & Zweifel haben. Dabei plagt uns im Prinzip, über den individuellen Belangen hinaus, eine Sache:

Die Furcht davor, mit alldem alleingelassen zu werden.

In der Fortsetzung "Furcht" der Arzach-Chroniken geht es um die Nachwirkungen des Krieges. Was es bedeutet, im Nichts zu stehen; wenn die Gegenwart die Vergangenheit trifft, und die Zukunft nirgendwo in Sicht ist. Ich möchte euch im Rahmen dieses kleinen Projektes dazu einladen, euch mit unserer Zukunft zu beschäftigen und anhand dieses doch so traurigen Ereignisses zu überlegen, wie wichtig es ist, nicht über die Vernichtung anderer Menschenleben wegzugucken. Einfach deswegen, weil es auch eures sein könnte.

Gedicht "Furcht"

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Ein einziges Paar.
Nur ein einziges Paar.

Ich schaue auf die Schuhe hinab
und frage mich
wo der Rest ist.
Die Füßlein,
die dort drin stecken sollten
oder die Kleidung
die dieser kleine Mensch getragen haben muss.

Ich frage mich,
wie sein Name war.
Oder war es ein Mädchen?
Ich weiß nichts von diesem Menschen,
nichts von der unschuldigen Seele
die all diesen Leid
um sich herum
ertragen musste.

Hinter jedem Gesicht verbirgt sich
eine Geschichte.
Und doch habe ich dieses Gesicht nie gesehen,
hätte die Tränen auffangen können,
die über diesen schönen, zerbrechlichen Antlitz liefen.

Ich kenne diese Person nicht
und doch fühle ich alles,
all die Angst,
die einem das Hals zuschnürt,
all die Verzweiflung,
die einem dem Mut raubt.

Es hatte mal ein Zuhause
wie ich eins habe
wie alle Menschen ein Sitz für ihr Herz brauchen.
Es suchte mal nach Frieden,
fand aber nichts außer den Staub des Todes,
das durch die Luft wirbelte
und sich es in das Auge legte.
Tränen der Erschöpfung.

Es,
das Kind,
schloss die Augen und fühlte diesen Fremdkörper
wie dessen Energie sich aus den Augen
- dem Tor zur Seele -
in dem gesamten Körper ausbreitete.

Fühlte,
wie der Tod sich vorankündigte.

Ich stelle mir vor,
wie ich es sehen könnte,
es berühren könnte,
Worte der Hoffnung und Zuversicht
ins Ohr flüstern könnte.

Shhh,
mein Herz,
hab keine Angst.
Dein Zuhause war auch einst mein,
das meiner Vorfahren,
die mich riefen
dich zu suchen.
Weine nicht,
mein Kind,
denn Gott wird dich beschützen
und dich nach Hause bringen.

Ich will aber nicht weg,
schluchzte das Kind,
ich habe hier alle meine Freunde,
meine Eltern und Geschwister,
alles,
was ich brauche. 

Und so schüttelte der kleine Körper,
vor Kälte oder vor Schmerz,
in meinen Armen,
die es fest und warm versuchen zu umschlingen.
Ich lasse es nicht los,
ich lasse die Vergangenheit nicht gehen.
Ich will nicht,
dass diese Geschichte hier verblasst und verschwindet.
Unsere Geschichte,
unsere Wurzeln hier rausgerissen werden.
Ich will nicht, dass auch das Leben dieses Kindes in Staub zerfällt
wie das seiner Brüdern und Schwestern.

Eine Träne läuft mir über die Wange.

Ich schaue auf das einzige Paar Schuhe,
die ich in diesem riesigen Trümmerhaufen erkennen kann.
Der Geruch des Krieges
liegt noch in der Luft.
Ich atme es ein
tief in meine Brust,
stoße es mit Mühe wieder aus,
als würde es aus meinen Ohren weichen
als würde ich die Klagelieder
der Verbliebenen
laut und deutlich singen hören.