Interview mit keinem Vampir – ich führe Selbstgespräche
„Was macht es mit dir, natürlich so ganz persönlich, dort wo es weh tut, wenn deine Großmutter zum Beispiel ärgerlich anruft und dir an den Kopf wirft: ‚DU RUFST NIE AN!‘“
Als erstes sehe ich die liebe Gestalt der Oma Formen annehmen, sehe ihre großen von Fältchen umrandeten Augen und Wehmut steigt in mir auf. Ich empfinde Schuld und Scham, weil ich davon ausgehe, dass sie Recht hat. Ich werfe mir vor, eine schlechte Enkelin zu sein. Schlimmer: Ich werfe mir im Allgemeinen vor durch und durch schlecht zu sein. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich verletzte ich durch mein rücksichtloses Verhalten die liebe Oma.
Meine gewohnte Kommunikation: Der Satz löst Kopfkino aus. Das bedeutet, ich erkenne meinen „Schuldanteil“, durch den „berechtigten“ Vorwurf meiner Oma, empfinde ich Scham. Ich glaube, die Situation erfasst und „richtig“ bewertet zu haben. Automatisch reagiere ich darauf mit Selbstzweifeln oder ziehe mich von der Oma noch weiter zurück. Flucht.
Die Übung des Seminares, zur Einführung in die Lehre der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), hatte begonnen. Ich befinde mich zu dem Zeitpunkt meines fiktiven Interviews in einem Stuhlkreis in der Geschäftsstelle der BUNDjugend Berlin, sitzend, zwischen circa 15 anderen jungen Teilnehmer*innen. Es ist Samstag, es ist Vormittag. In der Mitte des Stuhlkreises steht eine Vase mit frischen Blumen und Anna Herzog, die Inputgeberin, führt uns weiter dorthin, wo es wirklich weh tut – in unser Inneres. Die Reise beginnt zwar mit einer guten Portion Theorie, der Weg, so dünkelt es mir, wird dennoch beschwerlich. Anna wird zum Kompass. Sie zeigt uns die Richtung, begleitet uns empathisch, stellt Fragen. Wie erfolgreich wir die Kommunikationsstrategie aufnehmen, ist uns selbst überlassen. Wie intim die von uns gewählten Fallbeispiele ausfallen, ebenso. Anna lächelt, während sie uns darauf hinweißt, dass diese Art mit Menschen in Verbindung zu treten, viel Zeit und Mut zur Ehrlichkeit in Anspruch nehme.
„Versuche mal tiefer in dich hineinzuhorchen: Warum rufst du nicht an? Kann es eventuell einen Grund dafür geben?“
Aber ja! Die Oma nörgelt bei jedem Thema, das ich benenne. Der Altersunterschied ist viel zu groß, als dass sie mich verstehen könnte und immer die Sorge ihrerseits, ich würde nie einen Mann finden, keine Kinder kriegen und einsam sterben, weil ich nicht kochen kann und das auch noch laut herumerzähle. Hallo ich bin erst 19 Jahre alt! So wird mir einiges klar: Oma hat Schuld! Nicht ich!
Der Fehler liegt beim Anderen: Während ich im ersten Schritt unter dem vermeintlichen Vorwurf meiner Oma, der durch mein eigenes Kopfkino entstanden ist, gelitten habe, erscheint es mir im zweiten Schritt selbstverständlich davon auszugehen, dass ich absolut keine Verantwortung trage. Ich glaube sogar, auf eine Ungerechtigkeit gestoßen zu sein. Bin in der Opferrolle und verteidige mich. Eine Annäherung zur Oma erscheint mir in diesem Moment unmöglich und das auch noch begründet.
„Bist du durch die beiden vorangegangen Erkenntnisse zufriedener geworden? Glaubst du nun eine Lösung eures Problems gefunden zu haben?“
Nein, nicht wirklich. Ein dumpfes Gefühl regt sich in meiner Brust. Ich hatte am Anfang Erleichterung empfunden, weil ich den Fehler von mir weisen konnte. Aber verletzt bin ich immer noch.
Empathie – Killer: Bis hierhin ist es mir gelungen die gesamte Kommunikation, die zwischen mir und meiner Großmutter so stattfinden würde, in einer Art und Weise zu gestalten, die beiden wahrscheinlich eher geschadet, als geholfen hätte. Aber warum? „So läuft es doch“, glaube ich. Jetzt könnte mal jemand mit einem Ratschlag um die Ecke kommen! Ich befinde mich in einer Verfassung, die gefährlich ist: Ohnmacht und Verharmlosung machen sich in meinem Gemüt breit. Die Grenze zwischen mir, als eigenständige Person, und meiner Oma, als ebenfalls eigenständige Person, verschwinden.
„Wenn du den Satz hörst: ‚ Du rufst nie an!‘, fühlst du dann Unsicherheit? Fühlst du dich ferner noch unter Druck gestellt? Deprimiert? Betroffen? Entnervt?“
Auf jeden Fall. Kann das Gegenüber meine Gedanken lesen???
Leben in der Dominanzkultur: Das „Über-Gefühle-Reden“ kenne ich gar nicht in dieser Art. Ich dachte, ich wäre traurig oder wütend, wenn ich den Satz meiner Oma höre. Dass eine Vielzahl anderer Emotionen darunter sind, bedeutet Neuland für mich. Erziehung und Kontrolle haben mich glauben lassen, dass jede meiner Handlungen Konsequenzen hervorbringe, vor denen man sich fürchten müsse. Tagtäglich auf der Hut vor Menschen zu sein, ist ziemlich anstrengend. Ich habe gelernt im Muster „Richtig vs. Falsch“ zu denken und demnach die Welt wahrzunehmen. Ich habe gelernt, dass Anstand, Sitte und „Moral“ zwar nicht gottgegeben, so doch Sache der Allgemeinheit sind, an die man sich zu halten hat, um sich besser von primitiven Lebensformen zu unterscheiden. Durch Annahmen wie diese, habe ich mir selbst Hemmnisse gebaut und mir Hürden erstellt, die „auf keinen Fall zu überwinden sind“. Die Frage nach meinen Gefühlen erschien mir deshalb auch eher unwichtig.
„Wir sind bald fertig, aber warum fühlst du so, bei diesem Satz?“
Wenn ich das wüsste! Gegenfrage: Wären dann Therapien nutzlos?
Zwischen ehrlicher Selbstempathie und Selbstmitleid: Die Enge der Dominanz-Logik führt zu zwei anerkannten Strategien: Rebellion oder Gehorsam. Sie werden durch Forderungen, Vorschriften und Verurteilungen hervorgerufen. Während ich davon ausgehe, dass ich „keine Wahl“ habe, als das ich mich beugen oder dagegenstämmen kann, irre ich mich gewaltig. Die Konsequenz bedeutet für mich, mir meiner persönlichen Freiheit zu entsagen. Es ist meine bewusste Entscheidung, entweder auf Konfrontations-Modus zu schalten oder klein bei zugeben. Genauso wie es meine freiwillige Entscheidung sein könnte, meine Fähigkeit zu einfühlsamer Verbindung mit mir selbst zu akzeptieren. Habe ich dies verinnerlicht, erübrigt sich die Aussage der Wahllosigkeit und ich erkenne, dass jede Kommunikation, die zwischen mir und meiner Oma stattfindet, auf Lebendigkeit, Verbindung und auf freiwilliger Basis erfolgt.
„Ich versuche dir entgegen zu kommen, da ich beobachte, dass du angespannt sein könntest. Nun, fühlst du dich entnervt, unter Druck, unsicher und deprimiert, weil du dir Ruhe und Gelassenheit wünschst? Weil du Harmonie in deiner Beziehung zur Oma brauchst?“
Okay, jetzt wird’s gruselig. Genau das ist mein sehnlichster Wunsch. Noch nie hatte ich einen derart klaren Blick auf meine Gefühle und auf meine Wünsche. Ich bin also kein schlechter Mensch. Ich rufe nicht so oft an, weil ich meine Ruhe brauche und ich reagiere auf den Satz empfindlich, weil ich mir eine harmonische und vertrauliche Beziehung zu meiner lieben Oma wünsche. Dinge, die völlig okay und normal sind.
Ein Bedürfnis nach mehr Bedürfnissen: Dinge, die ich brauche, die für mich unentbehrlich sind, gibt es in meinem Leben viele. Ich brauche Essen, um nicht zu verhungern. Ich brauche frische Luft, um nicht zu ersticken und ich brauche Klopapier, um mir den Hintern abwischen zu können. Das weiß ich. Dass aber Bedürfnisse wie Wertschätzung, Schönheit, Vertrauen in mich und andere und sogar Vergnügen dazu gehören, das wusste ich nicht. Mir kam es meistens als „White-Girl-Problem“ vor. Sie sind legitim und hängen nicht mit bestimmten Personen zusammen. Weil sie auf freiwilliger Basis sind, übersehe ich sie oft und gern. So wie die Forderung eines ungezogenen Kindes. Das Ganze erschwere ich mir zusätzlich,wenn ich sie für so unnötig halte, dass ich sie nicht mal meiner Umwelt mitteile. Und doch brauche ich sie, das Verlangen, die Bedürfnisse zu befriedigen, kommt – wehren aussichtslos.
„Du hast dich als Mensch mit legitimen Gefühlen und Bedürfnissen entdeckt. Ich gratuliere! Glaubst du, dass auch deine Oma solch ein Mensch ist?“
Bescheuerte Frage, aber natürlich ist sie das.
„Wenn du davon ausgehst, deine Oma sei auch ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen, was fühlt SIE in dem Moment, in dem sie ihren Satz „Du rufst nie an!“ an dich richtet?“
Naja, das ist schwierig…vielleicht ist sie enttäuscht. Vielleicht auch traurig.
„Weswegen könnte sie enttäuscht und traurig sein?“
Wegen mir?
„Was möchte sie vielleicht von dir?“
Das ich anrufe?
„Könnte es sein, dass deine Oma Nähe möchte, weil sie Kontakt braucht?“
Habe ich doch gesagt!
„Du hast dich selbst und deine Oma als Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen gesehen, wie würdest du nach dieser Einsicht weiter verfahren? Welche Strategie würdest du demnach wählen, um eure beiden Bedürfnisse zu befriedigen?“
Hm…ich glaube, ich würde sie anrufen und ihr sagen, dass wir gern öfter Telefonieren könnten.
„Wäre damit auch dein eigenes Bedürfnis nach Ruhe gestillt?“
Ich glaube nicht.
„Und wenn dein Bedürfnis nach Ruhe nicht gestillt wäre, würdest du dennoch in öfteren, kürzeren Abständen dich bei deiner Oma melden?“
Wahrscheinlich nicht.
„Würde dann Harmonie zwischen euch herrschen?“
Nein.
„Genau, es wäre ein fauler Kompromiss. Also ist auch die gewählte Strategie von dir nicht wirklich erfolgversprechend.“
Kompromisslos: die eigenen Grenzen
Faule Kompromisse sprechen eine offensichtliche Bedürfnisunbefriedigung an. Da mindestens eine der beiden Personen das mit der Zeit deutlich spürt, führen solche Kompromisse in den seltensten Fällen zu einer Lösung, mit der sich beide wohlfühlen. Sobald ich erkannt habe, was meine Oma wahrscheinlich von mir möchte, komme ich ihr entgegen und bemühe mich, ihr Bedürfnis nach Nähe und Kontakt zu stillen. Eines steht mir jedoch dabei im Wege: mein eigenes Bedürfnis nach Ruhe. Bis hierhin gelingt es mir aus der altbewährten Dominanzkultur auszubrechen. Eine Hinwendung zur Partnerschaftskultur könnte durch die Frage „Wie können die Bedürfnisse aller befriedigt werden?“ erfolgen. Schließlich, so das Wort, zeichne sich eine funktionierende und liebevolle Partnerschaft durch Gegenseitigkeit und Anteilnahme für und von beiden Partnern aus. Dabei spielt es keine Rolle, zu wem man diese Partnerschaft aufbaut, jeder Mensch verdient eine liebende, auf Wertschätzung beruhende Verbindung zu seinen Mitmenschen.
„Fällt dir vielleicht eine andere Idee ein, wie deine Oma mehr Kontakt bekommen könnte und du gleichzeitig auch deine Ruhe?“
Doch nicht so offensichtlich das Ganze, naja ich könnte ihr öfter Fotos von mir schicken und dazu einen kleinen Text. Ich könnte ihr auch auf den Anrufbeantworter quatschen. Könnte, nach selbstbestimmter und dosierter Ruhepause, auch mal wieder persönlich bei ihr vorbei kommen. Möglichkeiten gibt es also doch einige. Warum ist es mir nicht vorher eingefallen? Warum habe ich mich so ohnmächtig Gefühlt bei dem Satz: „Du rufst nie an!“? Das verwundert mich jetzt sehr. Ich werde es mir merken.
(K)Ein Ende in Sicht? Gewaltfreie Kommunikation als Lebensphilosophie
Natürlich schrieb ich meiner Oma einen kleinen Text. Das tat ich als erstes, als die Mittagspause von Anna Herzog freudig verkündet wurde. Was ich genau schrieb, ist nicht entscheidend. Dass ich es tat, war mir wichtig. In mir ging ein Wertewandel vor. Auch den anderen Teilnehmer*innen war es anzusehen. Alle strahlten und diskutierten eifrig, während zusammen die leckere selbstgekochte Suppe verzehrt wurde. Anna Herzog befand sich nun zwischen GFK-Jüngern. Ziemlich schnell begriffen wir die weitläufigen Perspektiven, die aus der Gewaltfreien Kommunikation resultierten.
„Keiner tut etwas gegen mich, sondern für sich.“
Dieser Satz nimmt doch allen möglichen Anschuldigungen und Verurteilungen, auch dem Zorn des Gegenübers, den Wind aus den Segeln. Warum? Weil ich das niemanden verübeln kann für seine Interessen einzustehen.
„Jeder Mensch tut das Schönste und Beste, was er im Moment tuen kann.“
Auch bei dieser Erkenntnis verspüre ich Erleichterung. Mitleid steigt in mir auf, wenn zum Beispiel Frauke Petry vorschlägt, auf geflüchtete Menschen bei Notwehr zu schießen, sobald ich die vorangegangen Sätze verinnerliche. Anscheinend ist dieser Vorschlag der Wertvollste, den Frau Petry von sich geben kann. Anscheinend nimmt sie die negativen Reaktionen darauf gern in Kauf, weil Menschenleben zugunsten ihres Wahlkampfes nun einmal hinhalten müssen. Weil das, dass Schönste und Beste ist, was Frauke Petry leisten kann. Ich hingegen akzeptiere ihr Verhalten und ziehe daraus meine eigenen Konsequenzen. Besuche Demos und versuche ein extra großes Plakat zu entwerfen, damit auch die AFD-Aktionäre anderen Input bekommen. Ich unterschreibe Petitionen gegen sie oder mobilisiere mein Umfeld dazu, mich zu unterstützen. Aber ärgern muss ich mich nicht. Schließlich liegt es in meiner eigenen Freiheit für mich und meine Bedürfnisse Verantwortung zu tragen, statt sie von mir zu schieben und „Frauke“ die Schuld zuzuweisen. Ohnmächtig und hilflos bin ich dabei keineswegs – mehr.