Die eigene Linie finden – Kunst, Fotografie und Parkour in Berlin und der Schweiz

VON MORITZ KNOLL

Ich traf Jérôme Depierre vergangenen Monat am 'Zwingli', einem kleinen Parkourpark in Moabit. Der saltoschlagende Schweizer zückte nach vollendetem Sideflip eine Visitenkarte bezüglich meiner Nachfrage nach dem Zweck seines Aufenthalts in Berlin. Ein Student der Fotografie an der BTK, bereits sehr profiliert, doch mit dem Verlangen nach mehr Wissen und einem Szenewechsel in die Stadt der Städte gekommen.Wir tauschten unsere Kontaktdaten aus und treffen uns einige Wochen später in einem Café am Kottbusser Tor. Jérôme ist 23. Er ist zum vergangenen Wintersemester nach Berlin gekommen. Fand nach der üblichen Odyssee durch den Berliner Wohnungsdschungel schließlich ein Zuhause in Charlottenburg. Mit Wurzeln in Italien, der Welschschweiz und Tschechien sehr international aufgewachsen, spricht der sympathische Student fünf Sprachen. Seine Passion gilt neben dem Fotografieren dem Film, dem Radfahren, dem Abschalten und dem Wertschätzen des Moments. In der Lage zu sein, zu fokussieren, die Kamera oder das Smartphone wegzulegen und durchzuatmen.

Wir beobachten einige Zeit die rauchenden und Shawarma verschlingenden Passanten durch die riesige Glasfront des 'Luzia' und widmen uns dann dem Milchkaffee und dem mit Fragen übersäten Zeichenblock.

jup!: Jérôme, wie fandest du Zugang zur Fotografie?

Jérôme: Oh, das hat sich sehr spontan ergeben. Es war nichts, das ich schon lange wusste. Ich habe auch nicht seit langer Zeit schon fotografiert. Es war auch kein Hobby. Überhaupt nicht.

Ich machte dann eines Tages mit einem Freund eine Website für unsere Parkourgruppe in Basel. Und ziemlich schnell hat sich dann ergeben, dass wir noch Fotos von spezifischen Ereignissen benötigten für diese Website. (Anm. d. Red.: Die Gruppe nennt sich World's Parkour Family (WPF und wurde 2010 in Basel gegründet.) Wir waren damals 15 Leute. Und jeder hatte eine Kamera außer mir. Da fragte ich: „Hey Jungs, könntet ihr mal dies und das fotografieren beim Training, ich bräuchte noch Material.“ Aber keiner hat's gemacht. Aber ich brauchte die Bilder, also dachte ich mir, ich mache es einfach selbst. Also fragte ich meine Freundin, denn sie hatte auch so eine Kamera. Wie funktioniert das? Wie geht das? Dann fing ich an Bilder zu machen. Und ziemlich schnell wurde mir dann eigentlich klar, dass es mir sehr gefallen hat, diese Bilder zu machen. Ich habe dann begonnen, auch andere Dinge, außer Parkour, zu fotografieren. So habe ich es eigentlich an Hand von Parkour gelernt.

Man muss sehr technisch Sehen können. Schnelle Bewegungen, den passenden Ausschnitt, den Sportler richtig abbilden. Ich habe damals als Fahrradkurier gearbeitet und mich nebenbei mit Fotografie befasst. Sehr intensiv. Nachdem ich mein Abitur beendet hatte, trat ich meinen Zivildienst an, der dauert ein Jahr in der Schweiz. Also arbeitete ich in einem Krankenhaus in Basel. Und in dieser Zeit, da war auch das mit der Parkour-Website, da wurde mir klar, ich möchte das machen. Also begann ich in dieser Zeit sehr früh nach Assistenzstellen bei Fotografen zu suchen, sah mir Portfolios an und suchte nach passenden Betrieben. So bewarb ich mich sehr früh, um nahtlos nach dem Zivildienst anfangen zu können. Ich begann dann langsam auch unabhängig zu arbeiten. Eigene kleine Projekte zu realisieren. So hat sich dass alles langsam aufgebaut.

Du bist nun seit dem vergangenen Herbst hier. Wie ist es, diesen beruflichen Kontrast zwischen Berlin und Basel zu erleben?

Also in Deutschland habe ich noch nicht so viel gearbeitet. Eher im Zusammenhang mit dem Studium. Natürlich schon auch einige kommerzielle Dinger. Aber noch nicht so viel, dass ich den Markt so kennen würde wie in der Schweiz. Der Unterschied, also was mir sehr auffällt, ist, dass es in Berlin mehr so die trendigen Sachen gibt, die in der Schweiz kaum existieren. In der Schweiz geht der Trend hingegen zum Klassischen, zum Konservativen. Zum Beispiel gibt es in Berlin sehr viel Modefotografie. In der Schweiz nur sehr limitiert. Oder die Schweizer Fotografen, die mit Mode arbeiten, shooten dann halt nicht der Schweiz. In der Schweiz ist es eher ein Nebenmarkt. Dort ist Fotografie viel mit Geschäft verbunden, mit Aufträgen für Firmen. Ich habe nicht das Gefühl, beziehungsweise ich kenne nicht viele Schweizer Fotografen, die von ihrer künstlerischen Arbeit leben können. Es gibt natürlich auch viele die ausgesiedelt sind.

Ich habe das Gefühl, das Verständnis für Kunst ist größer hier. In Berlin gibt es sehr viele Galerien, aber eben nicht nur für Kunst, sondern auch für Fotografie. In Basel hast du vielleicht ein oder zwei solcher Orte. Fotografie ist kaum vertreten. Fotografie als alleinstehendes Medium wird nur sehr selten gezeigt. Außerdem gehen in Basel nur Insider in diese Ausstellungen, es ist nicht so sehr das Interesse einer breiten Öffentlichkeit gegeben wie hier. Ich habe das Gefühl, in Berlin geht man schneller den Schritt zum Ruhm beziehungsweise profiliert sich schneller und wird auch international bekannt.

Sorgt der gigantische Markt der Hobbyfotografie, der durch technischen Fortschritt und Massenproduktion Spiegelreflex- und Digitalkameras für jedermann erschwinglich und vor allem auch nutzbar macht, für Konkurrenzdruck auf die Szene?

Der Konkurrenzdruck entsteht in meiner Erfahrung nur auf finanzieller Ebene. Ich habe mal für einen Kunden halbjährlich ein Portrait von ausgewählten Sportlern gemacht. Dann, plötzlich, meldete er sich nicht mehr. Und dann irgendwann wieder. Er entschuldigte sich und meinten, der Freund von einer Sportlerin fotografiere auch und habe es nun zweimal versucht, aber nichts erreicht. So fragten sie wieder mich. Das ist sehr fies, finde ich. Denn man baut ein gewisses Verhältnis auf, natürlich nicht vertraglich gebunden, aber es untergräbt einfach die Beziehung. Sie wollten Geld sparen. Und haben dann gemerkt, es funktioniert nicht. Ich habe bemerkt, dass viele Menschen (auf Amateurbasis) so arbeiten und sich unter ihrem Preis verkaufen. Denn sie haben keine Ahnung, was ihre Arbeit wert ist. Das macht den Markt kaputt. Natürlich bin ich auch noch sehr jung und nicht schon seit zehn, 20 Jahren dabei, um ein solches Konkurrenzverhalten herauszuspüren. Aber ich denke ein guter Fotograf ist in der Lage durch sein Bild etwas zu vermitteln und dafür braucht es mehr Know-how. Und ich glaube, so etwas wird immer gefragt sein.

Aber trotz dieses stilistischen Anspruchs wird es durch die Allgegenwärtigkeit von guten und günstigen Kameras sowie Smartphonecams sicher schwieriger, sich zu profilieren.

Nun ja, es kommt immer darauf an, auf was du persönlich hinarbeitest. Wenn du zum Beispiel ein Hochzeitsfotograf oder dergleichen werden möchtest, könnte es schwer werden. Aber wenn du ein Niveau anstrebst, wo du für Magazin-Covers, Modestrecken oder Werbekampagnen produzierst, dann ist da eine andere Qualität gefragt. Und wenn man sich in so einem Sektor bewegt, glaube ich nicht, dass man von der Übersättigung des Marktes unmittelbar betroffen ist. Während meiner Arbeit für Zeitungen ist mir aufgefallen, dass oft Praktikanten, bewaffnet mit einer Kamera, den Journalisten und Fotografen ersetzen. Die machen dann beides. Und in solchen Fällen, dem Journalismus, kann es hart werden mit der Konkurrenz. Wichtig ist, und das ist eine Phase, in der ich mich momentan befinde, sich als Fotograf zu spezialisieren. Du musst definieren, was du machst. Eine Linie haben. In der Fotografie ist es wichtig, neben guten Fotos, den Markt zu verstehen. Wie und wo und was mache ich? Und all das habe ich beim Assistieren gelernt. Es ist ein 24-Stunden- Job und du kannst nicht warten, dass die Leute dir die Türen einrennen. Du bist eigentlich eine Firma, eine Marke, und die musst du verbreiten.

Du studierst nun in Berlin. Ist das Studium nur obligatorisch?

Ich habe mir sehr oft die Frage gestellt: Soll ich studieren oder nicht? Denn ich kenne viele, die haben nicht studiert und leben nun davon. Aber ich habe festgestellt, bei denen ist das so ein Gewurstel. Da existiert keine Kontinuität von Anfang an. Das Studium stellt mir einen geschützten Rahmen, in dem ich mich nicht beweisen muss. Du nutzt diese Zeit, um Wissen anzusammeln und formst dich langsam. Dass du danach deine Richtung mehr oder weniger gefunden hast und nicht ziellos auf dem Markt umherirrst. Mein Ziel ist es, mein Studium zu beenden und parallel mein Portfolio anzufertigen, mit dem ich dann sofort bei zu mir passenden Institutionen beginnen kann. Nicht erst danach. Es gibt die künstlerische und kommerzielle Seite. Ich finde es sehr spannend künstlerische Arbeiten zu machen, aber für mich darf es nicht zu abstrakt sein. Ich würde meine (künstlerischen) Vorlieben und mein Verständnis von Ästhetik gerne mit dem Kommerz verbinden. Das ist natürlich sehr schwer. Wenn ich Projekte mache, möchte ich diese nicht abschließend behandeln, sondern versuchen, Beständigkeit zu verfolgen, sie mir ab und an auch ansehen. Ich habe eine große Projektsammlung und diese ergänze ich immer wieder. Manche sind Momentaufnahmen und dann abgeschlossen, aber viele kann man auch wieder aufnehmen und verbinden mit Neuem. Es ist gut, einen Ideenpool zu haben, aus dem man schöpfen kann.

Wie kamst du damals zum Parkour?

Also, ich habe ganz früher mal Handball und Tischtennis gespielt, aber nur sehr kurz. Und was mir da am Teamsport nicht so gefallen hat, waren die Schuldzuweisungen im Spiel. Ich bin als Kind schon immer gern auf Bäume geklettert. Gefällt mir auch heute noch, das ist einfach geil. Ich habe dann herausgefunden, dass dieser Sport existiert und habe dann ganz schnell angefangen zu praktizieren. Man ist so flexibel und frei. Und kann überall trainieren. Keiner schreibt dir etwas vor. Anstatt sich mit Freunden im Park zu treffen, um zu grillen, trifft man sich im Hinterhof zum Trainieren. Das ist dasselbe für mich.

Wie tickt die Szene in der Schweiz so?

Nach 2010 hat Parkour einen enormen Aufschwung erfahren, war sehr trendig, viele wollten das machen. Jetzt ist das wieder sehr abgeklungen. Es gibt einige größere und kleinere Vereinigungen und Teams, wie zum Beispiel Parkour One. Die, die sich jetzt schon gut organisiert haben, sind auch alle im Besitz von mobilen Parkourparks zum Aufbauen oder Hallen zum Trainieren. Man findet sehr, sehr junge Leute, im Alter zwischen zehn und 20 Jahren, maximal 25 bis30. Leider kaum Frauen. Und die meisten Leute betreiben eher Freerunning. (Anm. d. Red.: Freerunning: Aus dem sehr strikten Parkour hat sich durch Elemente des Trickings, Tanzens, Turnens und vielen anderen Einflüssen eine Subform entwickelt, die heute in einem Atemzug mit Parkour genannt wird. Es wird viel mit Salti gearbeitet, kleinen Floweinheiten und kreativen Bewegungsformen. Wer Parkour betreibt, betreibt meist auch Freerun. Und wer Freerun betreibt, meist auch Parkour.) Es sind eigentlich immer dieselben Leute, man kennt die meisten. Der Markt ist eher klein in der Schweiz. Aber es gibt auch einige, die international erfolgreich sind, mit RED BULL und dergleichen. Aber es ist schwer davon zu leben. Berlin bietet so viel als urbanes Spielfeld. Ganz viel neue Spots, neue Gesichter und die Motivation, die durch Neuerung entsteht.

Wie denkst du über Parkour als Lebensphilosophie?

Es ist für mich ein Sport wie jeder andere auch. Ich wahre eher Distanz zu der Spiritualität im Parkour. Man springt und klettert, es ist ein Actionsport. Es ist eine Kunst wie Tischtennis oder Downhill. Der Sport hat sich verändert. Mir gefiel der frühere Parkour besser, die alten Videos, das war für mich wirklich Parkour. Gruppen wie die Yamakasi. (Anm. d. Red.: Yamakasi ist eine Parkourgruppe, die vom Franzosen David Belle, dem sogenannten ‚Begründer des Parkours‘, gegründet wurde.) Es war nicht so wie heute, mit den ganzen Klamotten, die man noch haben muss. Total durchdesigned, so wie Team Farang zum Beispiel. Es ist kommerziell geworden. Damit identifiziere ich mich definitiv nicht.

Du verbindest in deiner Arbeit oft Architektur und Fotografie. Wie läuft hierbei der Entstehungsprozess ab?

Bisher machte ich meine Bilder immer über die Architektur. Das heißt, einen Ausschnitt zu definieren und erst danach den Traceur ins Bild einzubinden, also in die Geometrie einzupassen. Es gibt eine gewisse Ruhe ins Bild. Vielleicht ein wenig surreal. Saubere Komposition ist mir sehr wichtig. Wo beginnt es, wo endet es. Heranarbeitung an ein Bild, das schon existiert in meinen Gedanken. Aber ich versuche von diesem speziellen Look wegzukommen.

Jérôme, vielen Dank für das Interview.

Weitere Infos zu Jérôme gibt es auf seiner Webseite!

Mehr über Jérôme Depierre gibt es hier: http://jeromedepierre.com/

Freerunning

Aus dem sehr strikten Parkour hat sich durch Elemente des Trickings, Tanzens, Turnens und vielen anderen Einflüssen eine Subform entwickelt, die heute in einem Atemzug mit Parkour genannt wird. Es wird viel mit Salti gearbeitet, kleinen Floweinheiten und kreativen Bewegungsformen. Wer Parkour betreibt, betreibt meist auch Freerun. Und wer Freerun betreibt, meist auch Parkour.