Lützerath lebt! - Liebe in Zeiten der Kohlekraft

am 12.09.2022

Als ich die Kohlegrube das erste Mal sah, konnte ich es nicht fassen. Es wirkte viel zu sehr wie aus einem Science-Fiction- oder Fantasy-Film. Das Imperium hatte mit seinen riesigen grauen Maschinen die Natur zerstört. Die Orks hatten mit ihren gigantischen Kriegsgeräten die Welt verdunkelt. Die Spice-Harvester saugten den Planeten aus. Die Feuernation brannte mit ihren Flammen das Leben weg. Doch das war nicht "Star Wars". Nicht "Herr der Ringe". Nicht "Dune" und nicht "Avatar". Es war und es ist Realität! 

Um euch, die ihr vermutlich noch nicht am Rande dieser Grube standet, dieses Gefühl irgendwie zu vermitteln, habe ich beschlossen, meine Erfahrungen im Stil eines Science-Fiction-Romans zu verschriftlichen.

Tagebau Garzweiler 2

Ihre Häuser, ihre Felder, ihre Dörfer - alles ist längst von den immerhungrigen Stahlungetümen verschlungen.

Staub wirbelt am Horizont auf, als Ponyo von der Klippe hinab in die helle Wüste voll gelbem Nichts starrt. Aus der Ferne dröhnt das Rumoren der riesigen Bagger herüber, die träge und schwerfällig durch die gigantischen leeren Weiten kriechen. Immer tiefer fressen die Bagger sich in die Erde, fast einen halben Kilometer misst die Tiefe der Grube bereits. Schwarze Schuttwolken werden von den Baggern ausgespien, während die heiß begehrten Rohstoffe auf kilometerlangen Förderbändern bis hinter den Horizont verfrachtet werden. Wenn die 250 Meter langen Metallkolosse sich in Bewegung setzen, scheint es einem, als würde dort in der Ferne ein kleines, stählernes Dorf an Fahrt aufnehmen. Tiere oder Pflanzen sind längst den Chemikalien und Säuren der Bagger erlegen und der gelblich-bräunlichen Leere gewichen. 

Einzig die riesigen Maschinen können in dieser Ödnis noch existieren, die einst fruchtbares Ackerland war. Die Menschen, die dort viele Jahrhunderte wohnten, versuchten zunächst, sich gegen die großen Bagger zu wehren. Doch sie wurden alle vertrieben. Ihre Häuser, ihre Felder, ihre Dörfer - alles ist längst von den immerhungrigen Stahlungetümen verschlungen. Die Menschen zogen sich immer weiter zurück. Doch die stetig wachsende Grube schien sie zu verfolgen. Das Wachstum der Grube und des gesamten Systems, das hinter ihr steht, haben nie aufgehört. 

Auch heute noch werden die Klippen, die den Rand der Grube bilden, regelmäßig von den Baggern eingerissen, um ihr Territorium auszuweiten und neue, noch größere Klippen in die Landschaft zu schlagen. Selbst aus dem Weltall ist die Grube bereits zu sehen, wie eine riesige, unförmige, stets wachsende Narbe auf der Erdoberfläche.

Baumhaus

Sie scheinen guter Laune, doch da steckt eine nicht übersehbare Wut und Widerständigkeit hinter diesem Lachen.

Nach einiger Zeit kann Ponyo den Anblick nicht mehr ertragen und wendet die Augen ab. Haltsuchend blickt mensch in die entgegengesetzte Richtung der Grube und Ponyos Blick trifft auf bunt bemalte, aus Abfall zusammengeschusterte, schiefe Holzhäuschen, beschmückt mit Fahnen und kämpferischen Freiheits-Symbolen. Als Ponyo den Blick nach oben richtet, entdeckt mensch farbenfroh bemalte Baumhäuser, die sich zugleich wild und majestätisch in die Baumwipfel krallen. Bunt zusammengewürfelte Menschen, miteinander lachend und musizierend, tummeln sich zwischen den Gebäuden. Sie scheinen guter Laune, doch da steckt eine nicht übersehbare Wut und Widerständigkeit hinter diesem Lachen.

Ponyo kommt unwillkürlich ein Bild von fauchenden Katzen in den Kopf, die sich auf den Angriff bereit machen. Doch da ist auch viel Zärtlichkeit. Menschen nehmen sich in den Arm, tanzen miteinander, sind einander nah. Die Menschen geben sich gegenseitig Kraft und Wärme, denn nur so können sie den Anblick der Bagger, die immer weiter auf sie zu rollen, ertragen. Nicht viele schaffen es lange an diesem Ort zu bleiben. Alle wissen, dass sie bei einer direkten Konfrontation gegen die Bagger nicht den Hauch einer Chance hätten. Dass dieser Ort, dass alles, was sie sich hier aufgebaut haben, zum Untergang verdammt ist. Viele versuchen in ferne Teile der Welt zu fliehen, in welche die Bagger noch nicht vorgedrungen sind. Doch gerade den Ältesten, die schon lange auf der Flucht vor den sich ausbreitenden Tiefen des Tagebaus sind, ist klar, dass weitere Flucht keine Option ist. Denn mit jedem weiteren verschlungenen Haus und jedem weiteren gerodeten Baum gewinnen die Bagger an Macht.

Noch hat der Staat den Menschen ein gewisses Maß an Schutz gegen die Bagger gewähren können. Doch den Menschen ist klar, dass das nur eine heuchlerische Gnadenfrist war: die Bagger und die Konzerne hinter ihnen haben zu viel Reichtum und Macht erlangt, als dass der Staat sich ihrem Willen noch entziehen könnte. Schon bald wird der Angriff auf ihr Zuhause, auf Lützerath, erfolgen. Nicht nur RWE und die Bagger werden in die Offensive gehen, auch der Staat wird seinen Streitkräften befehlen, Lützerath einzunehmen. Ab dem 1. Oktober 2022 wird diese Offensive, die Lützerath möglichst schnell überrollen soll, starten. 

Alle Menschen sollten hier ein gutes und freies Leben führen können. 

Angesichts dieser Umstände hatte Ponyo ein verzweifeltes und verängstigtes Lützerath vorzufinden erwartet. Und Angst und Verzweiflung waren zweifellos auch spürbar in dem Dorf am Rande der Grube. Doch sie wurden von etwas anderem übertönt, einer Hoffnung und einer Entschlossenheit, der Ponyo sich nicht entziehen konnte. Denn die Menschen in Lützerath kämpften nicht nur für sich. Sie wussten, dass es Menschen auf der ganzen Welt so ging wie ihnen. Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, vertrieben von der großen Maschine, die den Namen Kapitalismus trägt. Dieses Wissen, dass sie für all diese Menschen mitkämpften, gab den Dorfbewohnis Kraft. 

Erst beim Anblick dieses Mutes wurde Ponyo klar, dass die Besetzis und Aktivisti, die Lützerath in den letzten Jahren aufgebaut hatten, viel mehr geschaffen hatten, als nur einen Ort des Widerstands gegen die großen Bagger. Lützerath war in all der Zeit zu einem Ort geworden, wo Träume und Ideale wahr werden konnten. Wohnraum, Essen, Betten - alles gehörte allen! Obwohl niemand dort reich war, musste auch niemand Hunger leiden oder in der Kälte schlafen. Alles basierte auf freiwilliger Vereinbarung, niemand musste arbeiten oder früh aufstehen. Ein großes Awareness-Team sorgte dafür, dass kein Mensch in Lützerath sich unwohl fühlte und dass alle Bedürfnisse zumindest angehört wurden. Den Menschen war bewusst, dass sie in einer Welt voller sexistischer Rollenbilder und rassistischer Stereotype aufgewachsen und von diesen geprägt worden waren. Deswegen war die Reflektion des eigenen Sexismus und der eigenen Vorurteile ein Kern der aktivistischen Arbeit in Lützerath. Alle Menschen sollten hier ein gutes und freies Leben führen können.

Die Menschen wussten, dass sie mit diesem Ort etwas Wichtiges geschaffen hatten.

Der Traum, die Utopie, die hier in Lützerath über Jahre harter Arbeit Wirklichkeit geworden war, hatte über die Geschichte hinweg viele Namen gehabt. Der Begriff, unter dem Ponyo diesen Traum kannte, war die Anarchie. Die Menschen wussten, dass sie mit diesem Ort etwas Wichtiges geschaffen hatten. Etwas, das es wert war, verteidigt zu werden.

anarchistische, schwarze Fahne an der Klippe

Deswegen trugen sie die Nachricht von ihrer Situation hinaus in die Welt.

Doch sie wussten auch, dass sie gegen die Räumpanzer und Hebebühnen der Polizei keine Chance haben würden, egal wie sehr sie kämpften. Deswegen trugen sie die Nachricht von ihrer Situation hinaus in die Welt. In den großen Städten wurden Infoverantaltungen und Solidaritätsdemonstrationen organisiert. In Berlin, der größten Stadt des Landes, bot der “Stressfaktor” übersicht über die ganzen Veranstaltungen, so dass jede Person dort ganz einfach und niedrigschwellig von den Lützerath-Veranstaltungen in ihrer Stadt erfahren konnte. Allen war klar, dass Lützerath, dieses Experiment der Freiheit, das für die Zukunft der Demokratie einen so großen Wert haben könnte, nur zu retten war, wenn sich der Staat zurück auf die Seite der Menschen stellte und die Seite der Bagger verließ. Überall wurde es lauter in den Städten, im ganzen Land und über die Landesgrenzen hinaus. Bestand etwa doch noch Hoffnung für Lützerath?

Die Geschichte von Lützerath nähert sich ihrem Ende. Bis zu diesem Teil sind alle geschilderten Eindrücke und Ereignisse direkt der Realität entnommen. Sie bilden die Geschichte eines sterbenden Ortes, der unter großem Kraftaufwand in einen Ort der Hoffnung und der Freiheit verwandelt wurde. Ab hier teilt sich die Geschichte auf. Denn die Zukunft steht noch nicht fest.

Ende 1

Alle Wälder bleiben (Spruch der Waldbesetzungsbewegung)

Lützerath hat mit Fridays for Future und der evangelischen Kirche zwei einflussreiche Verbündete. Der globale Klimastreik am 23.09.22 führt zu einer großen Welle an Solidarität und Aufmerksamkeit. Einige Politiker*innen geraten ins Wanken, was ihren harten Kurs gegen Lützerath angeht. Doch nach ein paar Wochen ist Lützerath wieder aus dem Blick der Öffentlichkeit und der Presse verschwunden. Da die Politik sich im Oktober noch keinen Räumungsversuch erlaubt, gibt es aus Sicht der Medien wenig "spannendes", das einer Berichterstattung wert wäre.

Mit der Zeit gewinnt die Regierung wieder vertrauen in ihre Räumungspläne und startet Anfang November eine groß angelegte Räumungsoffensive. Nach mehreren Tagen des Widerstands ist das letzte Baumhaus geräumt, Lützerath ist Vergangenheit. In den Tagen der Räumung kommt es zu massiver Polizeigewalt und verschiedene Politiker*innen der Linkspartei sprechen von einem Skandal, finden bei den anderen Fraktionen aber wenig Gehör. Dutzende Menschen werden durch die Räumung obdachlos. Menschen, deren Dörfer RWE bereits zum Opfer gefallen sind, werden beim Ansehen der Aufnahmen retraumatisiert. Nach einigen Wochen sinkt das öffentliche Interesse an Lützerath jedoch wieder. Die Kohlegrube wächst weiter und weiter und wenn RWE nicht gestorben ist, dann wächst sie auch noch heute.

Ende 2

Photo by Chris Kursikowski on Unsplash

Lützerath hat mit Fridays for Future und der evangelischen Kirche zwei einflussreiche Verbündete. Der globale Klimastreik am 23.09.22 führt zu einer großen Welle an Solidarität und Aufmerksamkeit. Einige Politiker*innen geraten ins Wanken, was ihren harten Kurs gegen Lützerath angeht. Auch nach einigen Wochen ebbt die Solidarität nicht ab. Im Gegenteil: die vielen Aktionen führen dazu, dass immer mehr, insbesondere junge Menschen das Thema für sich entdecken und sich gegen RWE und die Räumung laut machen. Die Forderung lautet, das Gerichtsverfahren wieder aufzunehmen und die nötigen Schritte einzuleiten, um Lützerath zu legalisieren. Auf Druck von Fridays for Future unterstützen die Grünen jetzt offiziell Lützerath. In der Regierungskoalition kommt es zu Streit.

Mittlerweile fahren immer mehr Menschen direkt nach Lützerath, um sich dort persönlich von der Situation zu überzeugen. Infolgedessen wächst das Dorf immer weiter an. Die Wut und Frustration, dass die Regierung nach wie vor an ihren Räumungsplänen festhält, wird immer größer. Nachdem der erfolgreiche Volksentscheid in Berlin politisch einfach ignoriert wurde, fühlen sich Teile der Bevölkerung ohnehin schon nicht mehr politisch repräsentiert. Der Fall Lützerath gießt hierbei Öl ins Feuer und die Politikverdrossenheit steigt immer weiter, was auch rechte Kräfte wie die AfD für sich zu nutzen wissen. Der Druck auf die Politik steigt, sowohl in NRW als auch im Bund.
Schließlich, nach langem hin und her, ist es geschafft: Gerichte und Politik willigen beide ein, Lützerath zu legalisieren! 

Es kommt zu keiner anarchistischen Revolution oder so. Tatsächlich ändert sich politisch nicht viel durch das Urteil. Lützerath vernetzt sich weiter mit progressiven Projekten im globalen Süden und schafft es, zu einem stabilen Anlaufpunkt für Aktivisti aus der ganzen Welt zu werden. Ein paar Menschen dürfen ihr Zuhause behalten und ein schöner Traum darf weiterleben.

Welches dieser beiden Enden sich bewahrheitet, entscheidest du, ja du, mit deinen Taten! 

Das muss gar nichts Großes sein. Rede mit deiner Familie über Lützerath, mit deinen Freund*innen. Besuch eine Soli-Veranstaltung in deiner Nähe. Rede in der Schule oder auf der Arbeit darüber! Trage den Kampf in deinem Herzen!