Mental Health: Ein offener Brief

von
am 02.09.2020

Ein offener Brief von Mara Grigorian.

Liebe Leser, liebe Leserinnen,

wie immer freue ich mich, euch hier begrüßen zu können. Seit März dieses Jahres hoste ich diesen Themen-Spezial. Es bereitet mir große Freude, immer wieder Input geben und euch meine Sichtweise, sowie Gedanken zu diesem recht komplexen Thema vorstellen zu können. Mental Health - seelische Gesundheit - ist eine Sache, die einem früher oder später bewusst und vor allem immer mal wieder im Leben begegnen wird. Das kann sowohl auf die gute, aber auch auf die schwierige Art und Weise sein.

Ich weiß, dass das Thema in seiner Mehrdimensionalität vielleicht für den ein oder anderen anstrengend sein kann. Zu viele Gefühle, zu viele Belastungen und einfach zu komplexe Zusammenhänge, die teilweise paradox sind oder zumindest so wirken. Deswegen ist auch nicht zu erwarten, hierbei von Einfachheit zu sprechen. Mental Health ist ein facettenreiches Konstrukt. Mental Health ist und bleibt in allererster Linie eine Verantwortung. Eine Verantwortung uns selbst und anderen gegenüber.

Ich denke, also bin ich

Ich glaube, dass viele junge Menschen es sich nicht immer leicht damit tun, mit solchen Angelegenheiten wie Verantwortungen und Entscheidungen umgehen zu können. Mal abgesehen davon, dass das sowieso keine Frage von strenger Altersdifferenzierung ist. Ich vermute bzw. erlebe es dennoch, dass sich insbesondere in jungen Jahren vieles in einem regt, verändert und wächst. Natürlich finden Entwicklungsprozesse zu absolut jedem Zeitpunkt in unserem Leben statt, aber gerade aus einem Punkt der Unwissenheit und Unerfahrenheit heraus wird man von den Aktualitäten des Weltgeschehens besonders geprägt. Ich beobachte die Welt und indessen beobachte ich mich. Bin ich also das, was ich sehe oder glaube zu sehen?

Während man heranwächst, stellt man sich viele unterschiedliche Fragen, die in diese Richtungen gehen. Ich kann nachvollziehen, dass das eine Gedanken- und (Er-)Lebenswelt ist, die sehr ermüdend und erschöpfend sein kann. Vor allem, wenn man nun wirklich nicht jede Frage des Lebens für sich beantworten kann. So wie wir leben, fühlen und uns verhalten - das obliegt nun wirklich nicht einem konkreten Schema, sondern wandelt und formt sich jeden Tag aufs Neue. So vielschichtig wie die Umstände unseres Lebens sein können, genauso vielschichtig kann auch unsere Reaktion auf diese Umstände sein.

Unsere Beziehung zu unserer Gesundheit ist etwas, das uns schon von klein an prägt und anerzogen wird: Jeder weiß, dass es wichtig ist, auf die eigene Verfassung zu achten. Stets sprechen wir davon, dass Gesundheit das Erste ist, was wir uns und anderen wünschen. Wenn es uns körperlich schlecht geht, wissen wir ganz genau, was wir zu tun haben. Es gibt Medikamente oder andere Behandlungsmöglichkeiten, um jene Probleme lösungsorientiert zu bekämpfen und mit Hilfe professioneller Kräfte diese zu bewältigen. In der Regel nehmen wir das auch so wahr. Aber wenn es um unsere seelische Gesundheit geht, wird noch relativ viel herum gehadert oder zumindest gezögert.

Von der Schwierigkeit, gute Entscheidungen zu treffen

Ich denke, dass Mental Health vor allem um die Zeiten der Jahrtausendwende ein intensives Thema geworden ist, das Schritt für Schritt in unserem Bewusstsein immer präsenter wurde. Mit der Veränderungen und neuen Überlegungen, die die nächste Generationen mit sich bringen, rückt die Frage in den Vordergrund, wie man eigentlich wirklich leben möchte. Und genau das ist der springende Punkt für mich, womit wir auf meine anfängliche Aussage zurückkommen: Mental Health ist eine Verantwortung gegenüber dem menschlichen Leben. Die Summe dessen, wer ich bin, wer ich sein möchte und was ich anderen in diesem Leben mitgeben will. 

Ich kann akzeptieren und sogar verstehen, warum einige Menschen nicht wirklich mit dieser Idee anfreunden können. Manchmal macht es uns das Leben echt schwer. Nicht jede Entscheidung ist fair oder gar einfach. Es gab auch für mich Zeiten, in denen ich nicht wirklich optimistisch in die Zukunft blicken konnte. Es schwirrten sehr viele Gedanken in mir herum und es gab immerzu irgendeine Sorge bzw. ein Problem, das über allem stand. Es galt, so gut und gewinnbringend wie möglich diese unangenehme Situation aufzulösen. Keine Zeit zu zögern, keine Zeit für überschwängliche Emotionen und schon gar keine Zeit für Gutgläubigkeit. Alles was zählt, waren Resultate.

In aller Ehrlichkeit

Ich werde hier nicht im Detail darauf eingehen, weil ich denke, dass ich diesen persönlichen Teil meiner Geschichte zu einem anderen Zeitpunkt meines Lebens erzählen möchte. Es sei nur soviel gesagt: Ich sah es in meiner Verantwortung, das Beste für mich zu tun und kam nicht mal ansatzweise auf die Idee, dass ich ziemlich fahrlässig mit mir umgegangen bin. Meine eigene seelische Gesundheit war für  mich immer optional und strapazierbar - etwas, was ich situativ bedingt irgendwie schon passable unterordnen konnte. Diese Vorgehensweise funktionierte bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Irgendwann realisierte ich jedoch , dass ich mit dieser leichtsinnigen und doch eher unterbewussten Einstellung meine mentale Gesundheit gegen die Wand gefahren habe. 

Was dann folgte, war ein langer und mühseliger Weg. Einfach war es nicht, aber diese Erfahrung rüttelte mich mehr oder weniger wach und brachte mich zu einer wichtigen Erkenntnis: Niemand wird einfach urplötzlich um die Ecke kommen und dich retten. Wirklich niemand. Ja, eines ist wohl wahr: Es werden Leute da sein, die dich unterstützen, aber sie werden mal kommen und mal gehen. Die einzige Person, die dich wahrlich retten kann - das bist du. Dein Leben liegt also in deiner Hand.

In gewisser Hinsicht war diese Erkenntnis etwas hart. Ich denke, ich spreche dabei vielen jungen Menschen aus der Seele. Man sieht sich selbst eigentlich noch nicht wirklich bereit dafür, mit der Grobheit der Realität konfrontiert zu werden. Irgendwie gibt es Dinge, die wir alle wissen, aber so richtig realisieren tun wir das dann doch später. “Es gibt keine Garantie für Sicherheit”, ist so eines dieser Erkenntnisse. Ich fühlte mich dem ehrlich gestanden überhaupt nicht so gewachsen, wie ich es sein sollte.

Wege der Offenbarung

Aber nun  stelle ich mich der Verantwortung und kümmere mich um meine Gesundheit. Ich tue es für mich. Ich zog damals alle Reißleinen und fing neu an, dachte um und versuchte über mein eigenes Überzeugungssystem hinaus zu denken. Vieles von dem man denkt, kann sich in der eigentlichen Welt doch ganz anders abspielen. So versuche ich mich von dem Glauben zu trennen, fehlerfrei durch’s Leben zu gehen. Manchmal ist es nicht leicht und ich würde auch nie behaupten, dass ich meinen Sinn für Präzision & Qualität dafür an den Nagel gehangen habe. Aber ich erlaube es mir, Dinge auch mal sein zu lassen und mich in einer intrinsischen, von der Außenwelt unabhängigen Ruhe zu erden. “Der Charme liegt doch in den Ecken und Kanten”, denke ich mir. Ich versuche also nicht nach Perfektion zu streben, sondern einfach nur ich zu sein.

So, jetzt fragt ihr euch wahrscheinlich: Warum erzählt sie das? Warum ist das jetzt relevant für Mental Health? Ganz einfach - das ist mein Bekenntnis. Ich höre und nehme in meinem eigenen Freundeskreis wahr, dass ein Großteil verunsichert sind, sich aktiv mit diesem Thema zu beschäftigen, weil es viele negative Assoziationen mit sich bringt. Psychische Beschwerden und Krankheiten haben fast schon so etwas wie ein beschmutztes Etikett, was man nicht an sich tragen möchte.

Es muss ein Punkt gesetzt werden

Diese Tabuisierung kann ich ehrlicherweise sehr gut nachvollziehen und sogar verstehen. Auch ich bekenne mich nicht leicht zu meinen persönlichen Problemen, weil ich verstehe, dass das einfach keine schöne Sache ist. Aber anzuerkennen, dass  mentale Gesundheit eine relevante Rolle in unser aller Leben spielt und jede*r von uns ein Mangel davon verspüren kann, ist der nächste Schritt, dieses Tabu zu brechen und in Zukunft erwachsen damit umzugehen. 

Es ist da. Es existiert und betrifft jede*n. Die Lage ist alarmierend: Jeden Tag nehmen sich Menschen das Leben, weil sie nicht wissen, wie sie mit ihren innerlichen Problemen umgehen können. Der Gedanke daran ist fürchterlich und macht mich traurig. Sie tun das, weil sie keine Alternative sehen und sich hoffnungslos fühlen – Nicht zuletzt liegt das an dem Image unserer Leistungsgesellschaft, welches stets nach außen projiziert, dass es kaum was Inkompetentes und Unsozialeres gibt als eine Störung im Denk- und Verhaltensmuster. Keiner will intuitiv damit in Verbindung gebracht werden. Doch Denkmuster entstehen durch die Gesellschaft. Diese Denkweise aufzubrechen gelingt nur, wenn Grenzen überschritten und Tabus durch ihre Thematisierung entkräftet werden.

Objektiv gesehen ist das  Wort “Störung” eine deskriptive Bezeichnung. In unserem individuellen und partiell-kollektiven Unterbewusstsein manifestiert es sich als eine Merkmalszuordnung, die einen stark negativen Stellenwert einnimmt. “Störung” weist darauf hin, dass - hier im abstrakten Sinne - ein Ablauf unterbrochen wird. Einfach formuliert: Störung klingt so, als wäre ein Mensch mit einer psychischen Störung eine Maschine, die nicht richtig funktioniert. 

Auch wenn man diese - zugegebenermaßen schräge - Überlegung wahrscheinlich nicht bewusst tätigt, so spiegelt es sich in unseren Reaktionen im Alltag wieder. Vieles, was mit psychischen Krankheiten einhergeht, assoziieren wir mit genau mit diesem Gedanken des “Kaputtseins”.  Gerade, wenn wir etwas nicht kennen - es uns also fremd ist und auf eine gewisse Art und Weise Angst macht - tendieren wir dazu, uns davon zu distanzieren und uns in eine “Wir vs. die Anderen”-Mentalität einzugewöhnen. 

Für unser aller Wohl

Dabei müsste man sich wirklich überlegen, ob es nicht produktiver wäre, dieses bestimmte kollektive Gewohnheitsdenken aufzubrechen. Wäre es nicht viel förderlicher, einen authentischen und ehrlichen Diskurs zu führen, dabei auf die Vielseitigkeit von Mental Health einzugehen, Risiken aufzeigen & Lösungen gemeinschaftlich schaffen ohne die Probleme des Einzelnen zu stigmatisieren? Ich bin der Überzeugung , dass wir als Gesellschaft im Endeffekt viel mehr davon profitieren, offen über dieses wichtige Thema zu sprechen. Vor allem junge Menschen sollten wir zukünftig darin bilden. 

Ich denke, dass Mental Health letztendlich das ist, was wir daraus machen. Es sollte nicht eigenartig sein oder einem befremdlich vorkommen, bei der Mittagspause auf die Frage “Wie geht es dir?” die Antwort “Nicht gut” zu bekommen. Es sollte kein unangenehmes Gefühl hervorrufen, wenn jemand dich um deine Hilfe erbittet oder du wiederum den Mut aufbringst, nach Hilfe zu fragen. Schon gar nicht sollte es die Ausnahme sein, dass du zu dir stehst. Niemand ist perfekt! Das ist ja quasi die Hymne des Lebens. Aber anstatt das nur zu sagen, sollte man das auch wirklich leben und deswegen füreinander da sein.

Ich hoffe, ihr könnt jetzt ein kleines bisschen besser verstehen, warum mir dieses Thema so sehr am Herzen liegt. Es geht hierbei nicht nur um mich oder meine persönlichen Erfahrungen & Gedanken. Das sind in aller Gesamtheit Geschichten von dir und mir. Mental Health betrifft uns alle gleichermaßen und sollte keine Wahl, sondern ein Versprechen für unser eigenes Leben und menschliches Miteinander sein. 

Gesundheit ist Leben. Bewahrt also Anstand und Aufrichtigkeit, wenn es darum geht - ihr könnt nie wissen, wem es das Leben rettet.

In Liebe, eure Mara.