Interview mit Wolf Ortiz-Müller

Wir haben mit Wolf Ortiz-Müller über das Thema Stalking gesprochen. Er ist Leiter und Gründer der Beratungsstelle Stop Stalking in Berlin, die sowohl stalkenden Personen, als auch betroffenen Opfern Hilfe anbietet. Der Diplom-Psychologe und Psychologische Psychotherapeut ist einer der führenden Stalking-Experten in Deutschland.

jup!: Wann spricht man von Stalking?

Wolf Ortiz-Müller: Stalking fängt an, wo eine Person unmissverständlich klar gemacht hat: „Ich will mit Dir keinerlei Kontakt mehr haben“ und die andere Person das nicht respektiert und weiter nachhakt. Wenn dieses Nachhaken über ein paar Wochen geht, wenn es in Auflauern, Telefonterror, Bombardierung mit SMS, Whatsapp, E-Mails etc. ausartet – ohne dass der Andere immer wieder geantwortet hat – wird es zum Stalking.

jup!: Wann wird es brenzlig?

Wolf Ortiz-Müller: Brenzlig wird es, wenn die ursprünglich freundliche Motivation „ich will Dich zurückhaben, ich will Dich wieder sehen“ in Rachegefühle umschlägt, und sich in Drohungen, Beleidigungen oder sogar Körperverletzungen ausdrückt. 

jup!: Was genau ist dann Cyberstalking?

Wolf Ortiz-Müller: Das simple Versenden von Kurznachrichten würde ich noch nicht als Cyberstalking bezeichnen. Aber wenn es um das Hacken von E-Mail-Accounts geht, um das Klauen von Passwörtern, um Überwachungssoftware auf dem Notebook oder Smartphone, um das Anlegen von Fake-Profilen oder um die Verbreitung von Lügen in den sozialen Medien macht der Begriff Cyberstalking Sinn. Es gibt keine vollständige Aufzählung, da sich die technischen Möglichkeiten mit der Entwicklung von Internet 2.0 permanent erweitern – im selben Maß nehmen die Fälle über die Jahre permanent zu

jup!: Was sollte man tun, wenn man gestalkt wird?

Wolf Ortiz-Müller: Sich eindeutig abgrenzen und konsequent bleiben. Alle Stalkinghandlungen dokumentieren (Stalkingtagebuch). Eine Beratungsstelle aufsuchen, um konkrete Schutzmaßnahmen zu besprechen und zu überlegen, ob eine Anzeige bei der Polizei Sinn macht.

jup!: Was sind das für Menschen, die andere stalken? 

Wolf Ortiz-Müller: Stalker können mit der Abgrenzung schwer umgehen. Sie fühlen sich selbst als Opfer einer ungerechten Behandlung, einer unfairen Trennung. Sie haben subjektiv so viel für die Beziehung investiert und hängen mit all ihren Gefühlen drin. Wenn die andere Person dann deutlich macht, dass wirklich nichts mehr läuft oder sogar eine neue Beziehung eingeht, kann die Kränkung in Wut umschlagen: „Der werd ich‘s zeigen“, oder „wenn ich so leide, soll er ruhig auch mal leiden“...

jup!: Ist ein Stalker heilbar?

Wolf Ortiz-Müller: Stalking ist keine Krankheit, es muss daher auch nicht geheilt werden. Stalking ist ein Straftatbestand und wer stalkt, muss dafür juristisch geradestehen. Doch niemand ist als Stalker geboren. In Gesprächen kann deutlich werden, wie jemand dazu kommt. Das geht weniger über die Vernunft als über die Gefühle, das, was einen umtreibt. Stalker können lernen, ihr Verhalten zu steuern und viele sind froh, wenn sie das wieder hinkriegen. Denn keiner muss glauben, dass es den Stalkern „Spaß macht zu stalken“. Es ist ein Bewältigungsversuch ihrer Hilflosigkeit und viele sind froh, wenn sie diese auf positive Weise überwinden können.

jup!: Was kann man tun um sich präventiv gegen Stalker zu wehren?

Wolf Ortiz-Müller: Niemand kann ausschließen, an einen Menschen zu geraten, der einen später stalkt. Frühwarnzeichen können jedoch ein eifersüchtiges Kontrollieren sein, mit wem man sich wo und wie lange trifft? Wer bereits in der Beziehung angstvoll klammert und wütend über einen bestimmen will, kann häufig später auch eine Abgrenzung nicht akzeptieren.

jup!: Was macht Stalking mit Menschen? Worunter leiden Betroffene am meisten?

Wolf Ortiz-Müller: Stalking erzeugt Angst und Hilflosigkeitsgefühle. Wenn man schon beim Aufwachen sieht, wie viele neue Nachrichten eingegangen sind, und man tagsüber permanent damit rechnen muss, wieder gestört zu werden, ist man eingeengt und kontrolliert. Das Fiese an Stalking ist, dass es permanent und immer wieder passiert, über Tage, Wochen, Monate. Manchmal ist der Täter kaum zu stoppen, vor allem wenn man bestimmte Sachen nicht nachweisen kann. Viele entwickeln Depressionen und Angststörungen, manche erleben ein Trauma, das dann in den Erinnerungen als flashback immer wieder kehrt.

jup!: Haben sie das Gefühl das Polizei und Justiz das Thema "Stalking" nicht so ernst nimmt?

Wolf Ortiz-Müller: Die Polizei hat sich in den letzten Jahren enorm fortgebildet, so dass wir heute für Berlin davon ausgehen können, jeder Polizist weiß, was Stalking ist. Das ist sehr erfreulich, auch wenn man nicht ausschließen kann, dass vielleicht vereinzelt mal ein Polizist noch nicht ausreichend sensibel damit umgeht.

jup!: Glauben sie das aktuelle Stalking-Gesetze ausreichend sind oder gibt es Nachholbedarf?

Wolf Ortiz-Müller: Auf gesetzlicher Ebene ist ja erst vor einem Jahr nachgebessert worden. Den Mangel sehe ich bei der Möglichkeit, frühzeitig die Täter anzusprechen und in Beratung zu holen. Auch die Betroffenen erfahren noch nicht flächendeckend von den guten Beratungsstellen, die wir in Berlin haben.

jup!: Wie helfen Sie Stalking-Opfer die sie in ihrer Beratungsstelle aufsuchen? 

Wolf Ortiz-Müller: Wir hören zu, wir klären, wie es dazu kommen konnte? War es überhaupt eine Liebesbeziehung oder ist es einfach jemand, der sich verliebt hat, ohne dass der andere die Gefühle erwidert hat. Wir machen deutlich, dass sich das niemand gefallen lassen muss, dass sich niemand verstecken und klein beigeben muss. Wir erstellen ein Täterprofil und schätzen das Risiko ein, um das geeignete Vorgehen zu wählen. Die Betroffenen sollen gestärkt werden, bei der Abgrenzung zu bleiben, kluge Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und bei Bedarf die Polizei einzuschalten. Manchmal hilft eine zweite Handy-Nummer, manchmal eine Gefährderansprache der Polizei, die dem Stalker klarmacht: Wie haben Dich auf dem Schirm!

Vielen Dank für das Interview!

Weitere Infos zu Herrn Wolf Ortiz-Müller und Stop-Stalking Berlin findet ihr unter:

Webseite: www.stop-stalking-berlin.de E-Mail: info@stop-stalking-berlin.de Tel. 030 / 22 19 22 000