Was der Tod uns über das Leben lehrt

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am 28.02.2020

Denk über das Leben nach, jetzt sofort. Was fällt dir ein? Farben, Geräusche, Bewegung, Emotionen - so viel macht das Leben aus. So viele Eindrücke, die auf uns einwirken. Manchmal ist es schön, manchmal ist es traurig. Doch alles in allem ist es eine abenteuerliche Achterbahnfahrt an Ereignissen. Momente, die wir nicht missen sollten, aber auch Momente, die es uns alles andere als leicht machen, weiter voranzuschreiten. Es gibt vieles, dass uns in unserem Leben beschäftigt und nicht zuletzt zählen wir dabei auf unsere Mitmenschen. Die Menschen, die wir lieben, uns etwas bedeuten und denen wir ebenfalls wichtig sind. Das Leben hat also seine Tücken, aber es ist toll, da zu sein und daran Teil zu haben.

Doch was passiert, wenn man mal weiterdenkt und sich die Kehrseite des Lebens anschaut? Über den Tod werden nicht viele Worte verloren - im Gegenteil, ihm ist sogar (passenderweise im übertragenen Sinn) die Redewendung “totgeschwiegen” gewidmet. Die Zone des Jenseits - etwas, dass über die rationalen Maßstäbe hinausgeht.Der Tod scheint als ein unbekanntes Phänomen gefürchtet zu sein. Was wir uns nicht erklären können, macht uns Angst und das wollen wir nicht sehen. Doch macht es wirklich Sinn, den Verstand vor dem Unvermeidlichen zu verschließen? Ist der Tod nicht vielleicht ein ständiger Begleiter des Lebens, der uns viel näher ist, als wir zu denken vermögen?

Kultur des Sterbens

Dieses Gefühl der Unsicherheit geht auf einen Mangel einer sogenannten Kultur des Sterbens zurück, findet die Autorin C. Juliane Vieregge. Die gebürtige Westfälin weiß zu gut, dass der Tod  Fragen aufwerfen kann - auch sie musste sich von ihrem geliebten Vater verabschieden. Im vertrauten Beisammensein und als Begleiterin auf dem Sterbeweg war es unausweichlich, sich mit dem Tod zu konfrontieren. Und selbst, wenn etwas Zeit blieb für das ein oder andere klärende Gespräch, so blieb auch viel Ratlosigkeit zurück.

Gibt es etwas, dass ich noch anders hätte tun können in den letzten Momenten und schwersten Stunden? Was bedeutet Sterben eigentlich und wie kann ich mit Trauer umgehen? Und vor allem: Wie möchte ich auf das Leben zurückblicken und mir jene Erinnerungen mit meinen Geliebten bewahren? Leben und Tod tanzen Hand in Hand - aber der Übergang in das eine zum anderen - das Sterbenwird gerne übersehen.

Dabei steht eines fest: Wir werden alle sterbe. Wenn man es genauer betrachtet, sind wir jetzt gerade in diesem Moment dabei, mit der jeder Sekunde ein wenig mehr „zu sterben“. Wir altern augenblicklich und absolut zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens. Wir rennen also nicht davor weg, sondern geradezu hinein! Wie kann es also sein, dass das Thema Tod so still geschwiegen, ja fast schon tabuisiert wird? Macht es nicht gerade - so vielfältig die Gesichter des Todes sein können - zu unserer Verantwortung, darüber aufzuklären und einander beizustehen? Auch Vieregge will in ihrer multiperspektiven Anthologie “Lass uns über den Tod reden” zum Sagen des Ungesagten auffordern - bevor es vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes zu spät ist.

"Lass uns über den Tod reden" (Ch. Links Verlag)

Wie ein Phönix aus der Asche

Doch der Tod muss nicht immer ein absoluter Schlussstrich sein. Manchmal ist er auch Impulsgeber und inspiriert einen, den eigenen Werdegang in eine neue Richtung umzulenken - ob man es nun so erwartet oder nicht. Dass sich bei dem Thema gemischte Gefühle einfinden, lässt sich ebenfalls in den Erzählungen des Autorenkollektivs erkennen.

In der ersten Sektion “Der Tod als Auftraggeber” werden genau diese Gefühle wieder aufgegriffen: So lebt beispielsweise die politische Leidenschaft nach dem Tod von Helmut Palmer in seinem Sohn Boris, heute Oberbürgermeister von Tübingen, weiter. Monika Ehrhardt-Lakomy hat nach dem Tod ihres Mannes und 40 gemeinsamen Schaffensjahren der Kreativität dessen Lebenswerk weitergeführt. Der Tod ist kein einfaches Thema, das gibt auch die Autorin zu - aber es muss nicht alles auf einmal enden. Die gemeinsamen Erinnerungen bleiben, und Vergangenes blüht durch eben diese Erinnerungen in der Liebe der Hinterbliebenen immer wieder aufs Neue auf. 

Jedoch ist es hin und wieder - mindestens genauso verwirrend wie der Tod als solches - noch schwieriger, die Motive des Liebens und folglich des Lebens zu verstehen. Denn hin und wieder gibt es Konflikte zwischen Menschen, die dauerhaft bestehen und sich durch das ganze Leben ziehen. “Der Tod als Versöhner” geht auch hier diesen Aspekten nach und zeigt, wie sinnstiftend es für die eigenen Identität sein kann, im Angesicht der letzten Worte die größten Wogen zu glätten, um somit guten Gewissens loslassen zu können. Nur so ebnen sich nach dem Verlust eines Lebens Wege in ein Neues, geprägt aus dem Vorherigen.

Schattenseiten

Manchmal scheint der Tod aber nicht immer mit Sinnhaftigkeit in unser Leben zu treten. Ja, es kann sogar regelrecht sinnlos erscheinen, mit welcher Wucht er überraschen kann. Von einem Tag in den anderen - das mussten auch Roland Kachler und Arsene Verny erfahren. In “Der Tod als Lebensbegleiter” sprechen sie über die Prägungen ihrer Verluste. Beide verbindet der Unfalltod ihrer eigenen Söhne.

Eine schreckliche Vorstellung. Das Leben des eigenen Kindes, das man einst schützte, entgleitet  aus den eigenen Händen - ganz plötzlich, ganz schonungslos. Da versteht man den Groll auf den Tod: Warum sollte man sich auch mit der natürlichen Idee des Todes anfreunden wollen, wenn er selbst junges, ja gar unschuldiges Leben einfordern kann? Ohne Erbarmen, ohne Scham–. Der Tod hat halt viele Facetten.

"Wer sich mit dem Tod beschäftigt, der stellt sich auch die entscheidenden Fragen des Lebens."

Momentum

“Er kündigt sich nicht an. Er kam und siegte”, so auch C. Juliane Vieregge in ihrer Einleitung zu “Der Tod als Weichensteller”. Trauer und Schuld, auch das spielt beim Tod nicht selten eine Rolle. Hätte ich den Suizid meines Mitmenschen voraussehen können? Oder bin ich Schuld, dass meine Mutter bei meiner Geburt verstarb? Viele Fragen zum Tod prägen unseren Lebensweg ungemein.

Der Tod wird zum fortwährenden Begleiter werden. Der Tod als Lehrmeister lehrt uns die Lektionen des Lebens & Leidens.  Bestatter, Onkologen & Chirurgen erzählen von dem alltäglichen Umgang mit dem Tod. Erzählungen, die Erkenntnisse schaffen - und auch Mut zum Leben geben. “Lebe im Heute, Hier und Jetzt. (...) Es könnte immer der letzte Tag sein”, so einfach fasst das Buch die Botschaft zusammen. Der Tod inspiriert uns ebenso, unser Leben ehrlich und authentisch zu hinterfragen.

Von Brücke zu Brücke

Erst letztens schlenderte ich bei einem Besuch meiner Familie in Venedig durch die Gassen der Lagunenstadt und dachte über mein Leben nach. Eines Nachmittags schipperte ich zur Friedhofsinsel San Michele rüber, ein Ort der vollkommenen Ruhe und friedlichen Stille mit prachtvollen Fassaden im romanischen Baustil. Auf eine gewisse Art und Weise atemberaubend.

Während ich also meine Augen nicht von den wunderschön konstruierten Mausoleen abwenden konnte, fragte ich mich, wessen letzte Ruhestätte hier wohl liegen mag. Ich wurde schnell fündig: Igor Stravinsky.“Adlig müsste man sein“, so meine Gedankengang. Wer möchte nicht so prunkvoll ruhen?Doch so kalt die Anlage von außen wirkte, so paradiesisch war es von innen - mit den großen Grünanlagen und das leise Plätschern der Brunnen.

Vor allem die Corte dei Quattro Evangelisti, das wie ein riesiger Labyrinth erschien, traf meinen Nerv. Tausende Gräber stapelten sich hier wortwörtlich übereinandern. Tausende Leben, die mal waren - aber nun der Vergangenheit angehören. Und so stand ich als einer der wenig Lebenden inmitten dieser Friedhofsinsel und hatte das Gefühl… losrennen zu wollen.

Autorenprofil: C. Juliane Vieregge

Die Kunst des Lebens

Losrennen. Jetzt sofort. Nicht, weil ich mich unwohl fühlten - im Gegenteil: Ich war energiegeladen. Und das, obwohl ich gerade sinnbildlich dem Tod sehr nahe getreten bin. Da frage ich mich: Worauf warten wir eigentlich? Da stehen wir also mitten im Leben, und doch verbringen wir es viel zu oft mit warten.

Jeder Moment ist ein Geschenk, jeder Atemzug ein Segen. Nicht zuletzt, weil ich im Laufe meines persönlichen Lebens Erfahrung mit verschiedenen Erkrankungen hatte, wurde mir das beim Lesen des Buches noch bewusster. Zu oft zerbrechen wir uns den Kopf So viele hypotetische Hirngespinste, anstatt einfach mal zu machen. Handeln, die Dinge in die Hand nehmen, das macht meiner Meinung nach den gravierenden Unterschied. Man kann viel reden und das Leben verträumen - auf die eigenen Taten kommt es jedoch letzten Endes immer an.

Ich finde, man sollte sich mehr der Dinge bewusst sein, die man sagt, tut und die man an andere weitergibt. Um so mehr ich über den Tod nachdenke, um so mehr wird mir die Vielfalt und das Potential des Lebens bewusst. Wir alle sollten diesen Impuls nutzen, solange er da ist. Darum ist der Tod für mich eher wie ein alter Verwandter, der uns am Ende der Geschichte an die Hand nimmt und sicher hinter den Horizont des Lebens begleitet. Ob ich daran gläubig festhalte? Ich denke nicht. Aber zumindest mag ich es mir so vorstellen.

 

Und mit den Geschichten aus “Lass uns über den Tod reden” von Juliane C. Vieregge lerne ich doch gerne die Schönheit des Lebens mit all seinen Tücken wertschätzen...