Der Labeling Approach in der Gesellschaft

am 17.12.2020
Eine Hand hält einen Zettel auf dem in buten Buchstaben NO LABELS steht

Unsere Gesellschaft öffnet sich und wird immer toleranter für diverse Lebenseinstellungen. Akzeptanz hat an vielen Stellen etwas damit zu tun, dem noch Unbekannten einen Namen zu geben. Genauer: Labels.

Labels kennen die meisten von euch vermutlich aus dem LGBTQIA+-Bereich als Möglichkeit, seine*/ihre* Sexualität oder Geschlechtsidentität mit einem Wort zu beschreiben. Das kann ganz wunderbar sein, wenn es darum geht Gleichgesinnte zu finden oder wenn man sich selbst in einer Debatte positionieren möchte. Es kann befreiend sein zu entdecken, dass man nicht allein ist, dass es Andere gibt, ja, dass es sogar einen Begriff dafür gibt.

Andere Labels - und ich werde den Begriff im Folgenden etwas ausweiten - wie Zero Waste können ein Ziel, hier die ”Null-Verschwendung”, darstellen. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass Labels als zu festgelegt betrachtet werden. Das Finden der eigenen Identität ist für Jugendliche ein spannendes Thema ist, mit dem sie auch gerne experimentieren, daher ist es mir für das Berliner JugendFORUM wichtig, ein Verständnis dafür zu vermitteln, dass Labels nicht statisch sind.

 

Sprache hat die wunderbare Eigenschaft, dass man ein Ding, eine komplexe Sache, mit einem einzigen Wort umschreiben kann. Wenn jemand nebensächlich von einem ‚Stein‘ spricht, weiß jeder, dass der Stein groß oder klein, grau oder braun, rund oder scharf sein könnte, gleichzeitig weiß man aber auch, dass er vermutlich in eine Hand passt, von unaufälliger Farbe und Musterung und je nach Umgebung rau ist. Vielleicht hat jeder ein anderes Sinnbild für den Stein im Kopf, aber wenn ich den Stein später hervorhole, dann kann man ihn sicher mit dem Stein, von dem ich zuvor sprach, identifizieren.

Wenn man jemanden ‚nett‘ findet, denken wir daran, dass ‚nett‘ die kleine Schwester von einem anderen Wort sein könnte; dass man die Person zu oberflächlich kennt, um etwas anderes von ihr zu sagen, oder dass die Person freundlich und lieb ist, und sonst keine erwähnenswerten Eigenschaften hat oder dass die Person wirklich so überragend nett ist, dass es kein besseres Wort gibt, um sie zu beschreiben.

 

Das zeigt das ungeschriebene Gesetz dessen, welchen Spielraum Wortbedeutungen habe können, wie die persönliche Disposition, der eigene Wortschatz, Gestik und Mimik Einfluss auf den Sinn haben.
Man könnte fast sagen, dass ohne diese Faktoren die Bedeutung nicht vollständig übersetzt wird. Denn Wörter sind nur eine Übersetzung der Wirklichkeit in die Sprache und Übersetzungen sind meist unvollständig. Warum sprechen mehr und mehr junge Leute Denglisch? Richtig, weil manche Übersetzungen erst im Englischen ihre volle Bedeutung zu entfalten scheinen.

 

Es kommt immer wieder vor, dass wir Erwartungen an Menschen stellen, die sich selbst mit einem bestimmten Wort, einem ‚Label‘, identifizieren. Das können Labels der  LGBTQA+-Community bezüglich Sexualität und Geschlechtsidentität, Lebenseinstellungen wie Veganismus und Minimalismus oder selbst Bezeichnungen wie Rentner*in und Student*in sein.

Label, das Wort ist tatsächlich englisch für Etikett oder auch Marke. Also ein Mensch der Marke x. Klingt schon komisch, oder?
Ursprünglich wurden Labels im Labeling Approach der Kriminalitätstheorie genutzt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Theorien beschäftigt der Labeling Approach sich nicht mit den Gründen dafür, dass jemand kriminell wird, sondern damit, wie die soziale Umwelt bestimmten Handlungsweisen das Label ‚kriminell‘ zuschreibt.

Dieser Zuschreibungsprozess vollzieht sich im täglichen Leben und rückt die Normsetzung dieser Zuschreibungen in den Vordergrund. Anders gesagt werden kriminelle Handlungsweisen mit einem bestimmten Bild des Handelnden verknüpft und das Rollenbild einer ‚kriminellen Person‘ entsteht.

 

Eine solche Stigmatisierung kann von kriminell bezeichneten Personen in ihr Selbstbild übernommen werden und infolge dessen zur ‚selbsterfüllenden Prophezeiung‘ führen, einem Phänomen, bei dem - vereinfacht - so lange etwas eingeredet wird, bis es sich bewahrheitet. Wenn ich mir beim Sportunterricht sage, dass ich den 12-Minuten-Lauf nicht durchhalten werde, werde ich viel schneller resignieren und so meine Voraussage bestätigen. Dadurch, dass ich nun meine eigene Erwartung erfüllt habe, wird sich in der Zukunft meine Resignation sogar noch verstärken, denn jetzt glaube ich nicht nur daran, sondern ich weiß es auch.

Das Prinzip funktioniert auch mit Erwartungen von außen, also wenn mir mein*e Sportlehrer*in sagt, dass er/sie nicht von mir erwartet, das zu schaffen, und dass es auch gar nicht schlimm wäre. Aber aufgeatmet! Das Prinzip funktioniert zum Glück auch umgekehrt. Deshalb solltet ihr euch selbst nicht schlecht reden, sondern lieber das Beste von euch erwarten!

 

Zurück zum Thema: auch wenn der Labeling Approach eigentlich den Kriminalitätstheorien zugeordnet wird, lässt sich das Ganze gewissermaßen übertragen. Und wisst ihr woran mich das Ganze dann erinnert? Richtig, Schubladendenken.

In den meisten Haushalten ist Umweltaktivist*in vermutlich kein richtiges Stigma, aber es weckt gewisse Erwartungen daran, was jemanden zu einem/*r Umweltaktivist*in ‚qualifiziert‘: Wer Umweltaktivist*in sein möchte, sollte niemals fliegen, nicht Auto fahren, regional und plastikfrei einkaufen, auf tierische Produkte verzichten, nicht rauchen, bloß nicht Opfer der Konsumgesellschaft werden und sich für den Umweltschutz laut machen. Wenn man einen dieser Punkte nicht einhält, dann kann man sich auf anmaßende Fragen und Kommentare, ”Wie man sich denn noch Umweltaktivist*in nenne könne?”, einstellen.

Es ist weniger das Abwertende ”So eine*r ist das also?”, mehr das Anmaßende ”Um sich so zu bezeichnen, muss man es aber so und so sein?”
Interessanterweise meist von Leuten, die selber gar nicht in der Position sind.
Jede*r der sich selbst schon einmal daran versucht hat, Zero Waste zu leben, weiß, dass es nahezu unmöglich ist, dass nichts im Müll landet, und würde daraus niemals einen Vorwurf machen.

 

Vor allem sind die Dinge ein Prozess, Meinungen ändern sich, genauso wie die eigene Identität und woran man diese festmacht sich über die Zeit weiterentwickeln.
Gerade im LGBTQA+-Bereich ist vieles ein Prozess des sich selbst Kennenlernens. Viele haben einmal geglaubt, heterosexuell zu sein, weil es ihnen so vorgelebt wurde und sie es nicht weiter hinterfragt haben, und haben später festgestellt, dass das so nicht stimmt. Warum sollte eine weitere Erkenntnis also nicht zu einer neuen Identifikation führen können? Warum ist es verpönt sich zu irren?

Ist Label also nur ein moderner Begriff für tolerantes Schubladendenken?
Nicht mal annähernd! Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Labels von innen heraus kommen und kein von der Gesellschaft aufgedrücktes Rollenbild sind. Sie machen es leicht, eine Eigenschaft oder Einstellung auszudrücken, aber man muss auch im Hinterkopf behalten, dass Labels veränderlich und individuell sind.

 

Vor allem aber sollte man akzeptieren, dass jeder Mensch seine eigenen Labels besser kennt und versteht als ein Außenstehender. Nicht jeder muss sich labeln, wenn er*/sie* sich auch ohne verstanden fühlt. Und auch wenn jemand noch auf der Suche ist oder seine*/ihre* Einordnung ändert, ist das okay. Die Erkenntnis sollte letztendlich von innen kommen, und wenn jemand sich selbst schon nicht sicher ist, wie solltest du es besser verstehen?

Wenn du dich einem Label zugehörig fühlst, denk daran, dass du nicht alle Kriterien dafür erfüllen musst, genauso wie es für jeden anderen auch einen Spielraum in diesem Bereich gibt. Denn jemandem von außen einen Stempel aufdrücken, das haben wir in unserer Gesellschaft schon lang genug getan.

 

Quellen: https://soztheo.de/kriminalitaetstheorien/herrschafts-und-gesellschafts…, https://lexikon.stangl.eu/8341/etikettierungsansatz/